Eigener Kommentar:

Auch hierbei handelt es sich lediglich um eine "kurze" Zusammenfassung, die natürlich auch größere Lücken aufweist. Ich hoffe, ich habe die Zusammenhänge nicht allzu sehr "zerstückelt".

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Die Schatten der Globalisierung

von Joseph Stiglitz

ISBN: 3-88680-753-3



 

Vorwort:

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Wenn Krisen auftraten, verordnete der IWF überholte, ungeeignete » Standardlösungen «, ohne sich um die Auswirkungen auf die Menschen in den Ländern zu scheren, die diese Vorgaben um- setzen sollten. Nirgends sah ich Prognosen darüber, wie sich die IWF-Programme auf die Armut auswirken würden. Nirgends entdeckte ich fundierte Diskussionen und Analysen der Folgen alternativer Politikansätze. Es gab ein einziges Rezept. Alternative Meinungen waren unerwünscht. Es gab kein Forum für offene, freie Diskussion, ja, sie wurde sogar unterbunden. Ideologische Erwägungen bestimmten die wirtschaftspolitischen Auflagen, und von den um Beistand ersuchenden Ländern erwartete man, dass sie die Vorgaben des IWF ohne Diskussion umsetzten. 

Diese bedenkliche Einstellung brachte nicht nur häufig dürftige Ergebnisse, sie war zudem undemokratisch. In unserem Privatleben würden wir niemals blindlings Ideen folgen, ohne alternative Optionen zu erwägen. Doch Staaten auf der ganzen Welt wurden angewiesen, genau dies zu tun. Entwicklungsländer sehen sich oftmals mit gravierenden Problemen konfrontiert und ersuchen den IWF oft erst dann um Beistand, wenn sich die Lage in einem Land krisenhaft zuspitzt. Doch die Medizin des IWF versagte mindestens ebenso oft, wie sie anschlug. Die Strukturanpassungspolitik - die wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die einem Land helfen sollen, sich an Krisen und längerfristige Ungleichgewichte anzupassen - führte in vielen Ländern zu Hunger und Ausschreitungen; und selbst wenn die Folgen nicht so dramatisch. waren, selbst wenn sich die Länder eine Zeit lang ein bescheidenes Wachstum abtrotzten, kamen die Früchte dieser Mühen überproportional den Begüterten in den Entwicklungsländern zugute, während es den Bedürftigen manchmal noch schlechter ging. Verblüfft nahm ich zur Kenntnis, dass diese Politik von vielen in der Führungsetage des IWF und der Weltbank, die die entscheidenden Beschlüsse trafen, nicht angezweifelt wurde. Das taten die Verantwortlichen in den Entwicklungsländern, aber viele von ihnen hatten so große Angst, dass ihnen die Fördergelder vom IWF und anderen gesperrt würden, dass sie ihre Zweifel, wenn überhaupt, nur überaus vorsichtig im kleinen Kreis formulierten. Aber während niemand über das Ungemach glücklich war, das die Umsetzung der Programme des IWF bedeutete, setzte der Währungsfonds einfach voraus, dass dieses Ungemach von diesen Ländern als notwendiges Übel angesehen werden müsse auf dem Weg, eine erfolgreiche Marktwirtschaft zu werden. 
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WAS GLOBALE INSTITUTIONEN VERHEIßEN

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Der IWF ist eine öffentliche Institution, mit Geldern finanziert, die von Steuerzahlern aus der ganzen Welt aufgebracht werden. Das sollte man sich in Erinnerung rufen, da der IWF weder den Bürgern, die ihn finanzieren, noch den Menschen, deren Lebensbedingungen er beeinflusst, unmittelbar rechenschaftspflichtig ist. Vielmehr wird er von den Finanzministern und Zentralbankpräsidenten der Mitgliedsländer überwacht. Sie üben ihre Kontrolle durch ein kompliziertes Abstimmungsverfahren aus, in dem das Gewicht der einzelnen Länder weitgehend von deren wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit am Ende des Zweiten Weltkriegs abhängt. Seither wurden einige geringfügige Änderungen vorgenommen, doch die führenden Industriestaaten haben weiterhin das Sagen, und nur ein Land, die Vereinigten Staaten, haben de facto ein Vetorecht. (In dieser Hinsicht gleicht der IWF den Vereinten Nationen, wo ebenfalls ein historischer Anachronismus darüber entscheidet, wem ein Veto- recht zusteht - den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs -, aber dort können immerhin fünf Länder ihr Veto einlegen.) 
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Die beiden Institutionen [Weltbank + IWF] hätten Ländern alternative Lösungskonzepte für einige ihrer Entwicklungs- und Transformationsprobleme anbieten können und so möglicherweise die demokratischen Prozesse gestärkt. Doch beide waren lediglich Erfüllungsgehilfen des kollektiven Willens der G 7 (der Regierungen der sieben führenden Industrienationen), insbesondere ihrer Finanzminister, und allzu oft war eine lebendige demokratische Debatte über alternative Strategien das Letzte, was sie wollten. 
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Ungeachtet der Tatsache, dass unser Verständnis volkswirtschaftlicher Prozesse in den letzten fünfzig Jahren enorm zugenommen hat, und trotz der Bemühungen des IWF gibt es mehr und schwerere Finanzkrisen. Manchen Berechnungen zufolge waren allein in den letzten 25 Jahren fast einhundert Länder von Krisen betroffene Schlimmer noch: Viele der wirtschaftspolitischen Auflagen des IWF, vor allem die verfrühte Liberalisierung des Kapitalmarkts, verschärften die Instabilität der Weltwirtschaft. Und sobald ein Land in einer Krise steckte, haben die Finanzspritzen und Programme des IWF die Lage nicht nur destabilisiert, sondern in vielen Fällen sogar noch verschlimmert, insbesondere für die Armen. Der IWF hat nicht nur seinen ursprünglichen Auftrag verfehlt, die internationalen Finanzbeziehungen zu stabilisieren, sondern war auch in den neuen ihm übertragenen Aufgaben nicht erfolgreich, wie etwa der Förderung der Marktwirtschaft in ehemals planwirtschaftlich gelenkten Ländern. 
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Die Probleme des IWF und der anderen internationalen Wirtschaftsinstitutionen lassen sich alle mit einem Wort umreißen: governance — der Frage also, wer die Entscheidungen trifft und warum. Die Institutionen werden nicht einfach von den reichsten Industriestaaten beherrscht, sondern insbesondere von Sonderinteressen der Handels- und Finanzwelt in diesen Ländern, und die Politik dieser Institutionen spiegelt diesen Sachverhalt natürlich wider. Das Auswahlverfahren für die obersten Entscheidungsträger der Institutionen verdeutlicht deren Problem, und es hat allzu oft zu ihrem Misserfolg beigetragen. Während IWF und Weltbank heute fast ausschließlich in der Dritten Welt aktiv sind (und das gilt insbesondere für ihre Kreditvergabe), werden sie von Vertretern der Industrieländer geleitet. (Gemäß einer Gepflogenheit beziehungsweise einer stillschweigenden Absprache ist der geschäftsführende Direktor des IWF immer ein Europäer, der Präsident der Weltbank dagegen immer ein Amerikaner.) Diese werden hinter verschlossenen Türen gewählt, und von den Kandidaten für diese Positionen wurde noch nie erwartet, dasssie praktische Erfahrungen in der Dritten Welt gesammelt hatten. Die Nationen, denen diese Institutionen dienen sollen, sind somit in ihren Leitungsorganen nicht angemessen vertreten. Für die Kleinbauern in Entwicklungsländern, die sich abmühen, die Schulden ihrer Länder beim IWF zurückzuzahlen, oder die Geschäftsleute in Ecuador, die aufgrund der Forderungen des IWF mit höheren Mehrwertsteuern belastet werden, ist das gegenwärtige System des IWF eines der » Besteuerung ohne Vertretung" (taxation without representation). Die Erbitterung über das internationale Regime der Globalisierung unter Leitung des IWF wächst, wenn den Armen in Indonesien, Marokko oder Papua-Neuguinea Brennstoff- und Nahrungsmittel-Subventionen gestrichen werden, wenn die Menschen in Thailand erleben, dass aufgrund der vom IWF erzwungenen Ausgabenkürzungen im Gesundheitswesen immer mehr Menschen an AIDS sterben, und wenn Familien in Entwicklungsländern, die für den Schulbesuch ihrer Kinder im Rahmen so genannter »Kostendeckungs«-Programme Gebühren entrichten müssen, die schmerzliche Entscheidung treffen, ihre Töchter nicht zur Schule zu schicken. Wenn Menschen keine Alternative haben, wenn sie ihre Nöte nicht artikulieren können und sich völlig ohnmächtig fühlen, rotten sie sich zusammen und randalieren. 
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GEBROCHENEN VERSPRECHEN

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Diese beiden Institutionen, die in der Öffentlichkeit oft miteinander verwechselt werden, weisen markante Gegensätze auf in Kultur, Stil und Auftrag: Die eine widmet sich der Armutsbekämpfung, die andere der Wahrung der weltwirtschaftlichen Stabilität. Die eine entsendet Teams von Wirtschaftswissenschaftlern, die längere Zeit in dem Gastland leben, die andere schickt ihre Mitarbeiter auf dreiwöchige Stippvisiten, auf denen sie in Finanzministerien und Zentralbanken über Zahlen brüten und es sich ansonsten in Fünf-Sterne-Hotels bequem machen. Dieser Unterschied ist mehr als symbolischer Natur: Man kann ein Land nur dann kennen und lieben lernen, wenn man buchstäblich aufs Land geht. Arbeitslosigkeit ist keine ökonomisch-statistische »nackte Zahl«, die gleichsam den Kollateralschaden des Kampfs gegen Inflation oder des Bemühens, die Kredite westlicher Banken zurückzuzahlen, quantifiziert. Die Arbeitslosen sind Menschen mit Familien, deren Leben von der Wirtschaftspolitik beeinflusst und manchmal vernichtet wird, die ausländische Institutionen empfehlen beziehungsweise der IWF faktisch aufoktroyiert. Die moderne High-Tech-Kriegführung ist darauf ausgerichtet, physischen Kontakt zum Feind zu vermeiden: Wenn man Bomben aus einer Höhe von 10000 Metern abwirft, »spürt« man nicht, was man tut. Bei der modernen Wirtschaftssteuerung verhält es sich ganz ähnlich: Von seinem Luxushotel aus kann man gefühllos Konditionen auferlegen, über die man zweimal nachdächte, würde man die Menschen kennen, deren Leben man zerstört. 
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Äthiopien und der Kampf zwischen Machtpolitik und Armut

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Ich hatte eine Unterredung mit Ministerpräsident Meles Zenawi, einem Mann, der einen 17-jährigen Guerillakrieg gegen das blutige marxistische Regime von Mengistu Haile Mariam geführt hatte. Zenawis Truppen siegten 1991, und anschließend begann die Regierung mit der harten Arbeit, das Land wiederaufzubauen. Zenawi hatte zunächst Medizin und später Wirtschaftswissenschaften an der Open University in England studiert, weil er wusste, dass das einheimische Wirtschaftssystem grundlegend verändert werden musste, wenn das Land seine jahrhundertelange Armut überwinden wollte, und er zeigte ein Wissen, ja eine Kreativität in ökonomischen Fragen, die all meine Studenten beschämt hätte. Er verstand die wirtschaftlichen Zusammenhänge und die besonderen Gegebenheiten in seinem Land viel besser als die Mitarbeiter internationaler Wirtschaftsinstitutionen, die sich mit Äthiopien befassten und mit denen ich in den folgenden drei Jahren zu tun hatte. 
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Er und seine Minister bemühten sich grundsätzlich um eine Dezentralisierung, um so den Staat näher an die Menschen heranzubringen und sicherzustellen, dass das Zentrum nicht den Kontakt zu den verschiedenen Regionen verlor. Die neue Verfassung gab sogar jeder Region das Recht, sich nach einem demokratischen Abstimmungsverfahren abzuspalten. Dies stellte sicher, dass die politischen Eliten in der Hauptstadt, wer immer sie auch waren, es sich nicht erlauben konnten, die Sorgen der einfachen Bürger in den verschiedenen Landesteilen zu ignorieren, und dass keine einzelne Region dem Rest des Landes seine Ansichten aufzwingen konnte. Als Eritrea 1993 seine Unabhängigkeit erklärte, bewies die Regierung ihre Prinzipienfestigkeit. 
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Aus verständlichen Gründen gewähren Weltbank und IWF nur solchen Ländern Kredite, die gute makroökonomische Rahmenbedingungen aufweisen.
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Dies traf auf Äthiopien zu, und zudem hatte die Weltbank direkte Belege für die Kompetenz der Regierung und ihr Engagement für die Armen. Äthiopien hatte eine Entwicklungsstrategie für seine ländlichen Regionen erarbeitet, die sich auf die Armen und vor allem jene 85 Prozent der Bevölkerung konzentrierte, die im landwirtschaftlichen Sektor erwerbstätig waren. Die Regierung hatte die Militärausgaben drastisch gekürzt - obwohl sie selbst mit militärischen Mitteln an die Macht gelangt war -, weil sie wusste, dass Gelder, die für Waffenkäufe verwendet wurden, nicht für die Bekämpfung der Armut zur Verfügung standen. 
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Die äthiopische Regierung hatte zwei Einnahmequellen - Steuern und Auslandshilfe. Der Haushalt eines Staates ist so lange ausgeglichen, wie die Einnahmen gleich den Ausgaben sind. Wie viele andere Entwicklungsländer bezieht auch Äthiopien einen Großteil seiner Einnahmen aus der Auslandshilfe. Der IWF war in Sorge, dass Äthiopien in Schwierigkeiten käme, wenn diese Quelle einmal versiegte. Daher argumentierte er, Äthiopiens Haushaltslage könne nur dann als solide beurteilt werden, wenn die Ausgaben auf das Steueraufkommen begrenzt würden. Die Logik des IWF führt zu der problematischen Folgerung, dass kein Land die Auslandshilfe, die es bekommt, in Entwicklungsprojekte investieren dürfte. Wenn etwa Schweden Äthiopien Gelder für den Bau von Schulen zukommen ließe, würde diese Logik Äthiopien dazu zwingen, mit dem Geld seine Währungsreserven aufzustocken. 
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Meles Zenawi formulierte es eindringlicher: Er sagte mir, er hätte nicht 17 Jahre so hart gekämpft, um sich von einem internationalen Bürokraten sagen lassen zu müssen, er dürfe keine Schulen und Kliniken für sein Volk bauen, nachdem er endlich internationale Geldgeber dafür gewonnen hatte.
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Äthiopien hatte einen amerikanischen Bankkredit mit einem Teil seiner Währungsreserven vorzeitig zurückgezahlt. Die Transaktion war ökonomisch absolut sinnvoll.
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Doch die Vereinigten Staaten und der IWF lehnten eine vorzeitige Rückzahlung ab. Sie beanstandeten nicht die Logik der Strategie, sondern die Tatsache, dass Äthiopien ohne vorherige Zustimmung des IWF aktiv geworden war. Doch weshalb sollte ein souveränes Land für jede Initiative die Erlaubnis des IWF einholen? Dies wäre verständlich gewesen, wenn der Schritt Äthiopiens seine Fähigkeit zur Tilgung der IWF-Kredite beeinträchtigt hätte; doch genau das Gegenteil war der Fall, da es eine sinnvolle finanzielle Entscheidung für die Solvenz des Landes war.
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Das gesamte Bankensystem Äthiopiens (gemessen beispielsweise am Wert sei- ner Aktiva) ist etwas kleiner als das von Bethesda, Maryland, einem Vorort von Washington mit etwa 55000 Einwohnern. Der IWF verlangte, dass Äthiopien nicht nur seine Finanzmärkte für die westliche Konkurrenz öffnen, sondern auch seine größte Bank in mehrere Teile zerschlagen sollte. In einer Welt, in der gewaltige amerikanische Finanzkonzerne wie Citybank und Travelers oder Manufactures Hanover und Chemical erklären, sie müssten fusionieren, um im Wettbewerb bestehen zu können, hat eine Bank von der Größe der North East Bethesda-Sparkasse keine Chance, sich gegen einen globalen Giganten wie Citibank zu behaupten. 
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Äthiopien widerstand aus gutem Grund der Forderung des IWF, sein Bankensystem zu » öffnen «. Die Regierung hatte gesehen, was geschehen war, als eines der ostafrikanischen Nachbarländer den Forderungen des IWF nachgekommen war. In dem festen Glauben, der Wettbewerb zwischen den Banken würde Zinssenkungen auslösen, hatte der IWF darauf bestanden, dass das Land seinen Finanzmarkt »liberalisiert«. Das Ergebnis war katastrophal: Die Zinsen stiegen, und Landwirte, die immer stark von Krediten abhängig sind, wurden schwer getroffen. 
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Als die Äthiopier den Forderungen des IWF nicht nachkamen, behauptete dieser, die Regierung meine es mit ihren Reformen nicht ernst, und setzte sein Hilfsprogramm aus.
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Die scharfe Kontroverse über die Vergabe von Krediten an Äthiopien öffnete mir die Augen über die Arbeitsweise des IWF. Es gab eindeutige Beweise dafür, dass sich der IWF bezüglich der Liberalisierung des Finanzmarkts und der gesamtwirtschaftlichen Lage in Äthiopien irrte, dennoch mussten die Ökonomen des IWF ihren Willen durchsetzen.
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Da die Entscheidungsfindung beim IWF größtenteils hinter verschlosseiien Türen abläuft - die gerade angeschnittenen Fragen wurden praktisch nicht öffentlich diskutiert -, nährt er den Verdacht, dass Machtpolitik, Sonderinteressen oder andere geheime Gründe, die nichts mit seinem Mandat und seinen expliziten Zielen zu tun haben, seine institutionelle Politik und Handlungsweise beeinflussen. 
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Es gibt Alternativen zu den IWF-Programmen, die der Bevölkerung ein vertretbares Maß an Opfern abverlangen und die ohne marktwirtschaftlichen Fundamentalismus positive Ergebnisse erzielten. Ein gutes Beispiel ist das 3700 Kilometer südlich von Äthiopien gelegene Botsuana, ein kleines Land mit 1,5 Millionen Einwohnern, das seit seiner Unabhängigkeit eine stabile Demokratie ist. 
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Botsuanas Erfolg basierte auf seiner Fähigkeit, einen politischen Konsens zu wahren, der auf einem breiten Willen zu nationaler Einheit fußte. Dieser politische Konsens, der notwendig ist für jeden tragfähigen Gesellschaftsvertrag zwischen Regierung und Regierten, war von der Regierung gemeinsam mit ausländischen Beratern, von denen viele im Auftrag der Ford Foundation tätig waren, sorgfältig erarbeitet worden.
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Als Botsuana vor zwanzig Jahren eine Wirtschaftskrise durchmachte, geriet dieser grundlegende Konsens in Gefahr. Eine Dürre bedrohte die Existenzgrundlage der vielen Menschen, die sich in der Viehzucht verdingten, und Probleme in der Diamantenindustrie hatten den Staatshaushalt und seine Devisenschätze schwer belastet. 
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Im Fall von Botsuana verschrieb der IWF seine übliche Medizin und riet Botsuana, seine Währungsreserven nicht anzutasten. Die Regierung und die Berater des Landes hielten diese Empfehlung für falsch. Wegen der Schwankungsanfälligkeit der beiden Hauptsektoren, Viehzucht und Diamanten, hatte die Regierung klugerweise einen Notgroschen für schlechte Zeiten wie diese auf die hohe Kante gelegt. War es nicht sinnvoll, diese Ersparnisse jetzt in Anspruch zu nehmen? Offenkundig verkannte der IWF nicht nur den Stellenwert eines breiten gesellschaftlichen Konsenses, sondern auch die Funktion von Währungsreserven! Zum Glück lehnte die Regierung die "Hilfe" und den Rat des IWF ab. Sie war nicht bereit, die hart errungene soziale und politische Stabilität für den unsicheren Nutzen der IWF-Mittel aufs Spiel zu setzen. Botsuana schnallte den Gürtel enger - wobei jeder sein Scherflein beisteuerte - und überwand so die Krise, wenn auch unter größeren Entbehrungen, als es der Fall gewesen wäre, wenn der IWF seine Hilfe zu tragbareren Konditionen an- geboten hätte. Seither hat sich Botsuana nicht mehr Hilfe suchend an den IWF gewandt. 
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Äthiopien und Botsuana sind typische Beispiele für die Herausforderungen, vor denen die erfolgreicheren Länder Afrikas heute stehen: Länder mit politischen Führern, die dem Wohl ihrer Völker verpflichtet sind, zerbrechliche und manchmal unvollkommene Demokratien, die sich bemühen, aus den Ruinen eines kolonialen Erbes, das ihnen weder Institutionen noch Humankapital hinterließ, bessere Lebensverhältnisse für ihre Menschen zu schaffen. Die beiden Länder sind auch typisch für die Gegensätze, die die Dritte Welt kennzeichnen: Gegensätze zwischen Erfolg und Misserfolg, Reich und Arm, Hoffnungen und Wirklichkeit, zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte. 
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Ich erlebte diesen Gegensatz, als ich Ende der sechziger Jahre zum ersten Mal nach Kenia kam. Kenia ist ein reiches und fruchtbares Land, und einige der wertvollsten Ländereien sind noch immer im Besitz alter Siedler aus der Kolonialzeit. Während England den Kenianern das Land weggenommen hatte, hatte es ihnen im Gegenzug nicht viel gegeben. Als ich eintraf, waren die ehemaligen Kolonialbeamten noch immer im Land; jetzt wurden sie Berater genannt, doch oftmals liefen die Fäden der Staatsverwaltung nach wie vor in ihren Händen zusammen. In Kenia und in anderen ehemaligen Kolonien hatten die Kolonialmächte die einheimischen Völker nicht darauf vorbereitet, die Leitung der Staatsgeschäfte selbst zu übernehmen.
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Allzu oft hat sich der IWF gegenüber den Entwicklungsländern wie ein kleiner Kolonialherrscher aufgeführt. Ein Foto kann mehr sagen als tausend Worte, und ein einziges Bild, das 1998 aufgenommen und auf der ganzen Welt verbreitet wurde, hat sich in das Bewusstsein von Millionen eingeprägt, vor allem in den ehemaligen Kolonien. Der geschäftsführende Direktor des IWF Michael Camdessus, ein kleiner, elegant gekleideter vormaliger Beamter des französischen Finanzministeriums, der einst behauptet hatte, Sozialist zu sein, steht mit strenger Miene und gekreuzten Armen hinter dem sitzenden und gedemütigten indonesischen Präsidenten. 

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Folgendes Bild habe ich dazu gefunden:

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Der glücklose Präsident wird faktisch dazu gezwungen, als Gegenleistung für Finanzhilfen, die sein Land dringend braucht, die wirtschaftspolitische Souveränität über sein Land an den IWF abzutreten. Die Ironie wollte es, dass ein Großteil der Gelder letztlich nicht Indonesien zugute kam, sondern dazu diente, die Forderungen privater Kreditgeber aus den "Kolonialmächten" zu befriedigen. (Offiziell handelte es sich bei der "Zeremonie" um die Unterzeichnung einer "einvernehmlichen" Absichtserklärung, die faktisch vom Fonds diktiert wurde, obgleich die Verantwortlichen des IWF oftmals die Fiktion aufrechterhalten, die Absichtserklärung stamme von der Regierung des Landes!)
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Die Einstellung des IWF und seines Vorsitzenden waren klar: Die Institution war der Born der Weisheit, der die "rechte Lehre" kundtat, welche das Begriffsvermögen der Menschen in der Dritten Welt einfach überstieg.
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Natürlich tut der IWF so, als würde er die Bedingungen jeder Kreditvereinbarung mit einem Schuldnerland nicht diktieren, sondern aushandeln. Aber es sind einseitige Verhandlungen, in denen die gesamte Verhandlungsmacht beim IWF liegt, vor allem, weil viele Länder, die den IWF um Hilfe ersuchen, dringend Finanzmittel benötigen. Obgleich ich dies in Äthiopien und den anderen Entwicklungsländern, mit denen ich zu tun hatte, deutlich gesehen hatte, wurde es mir bei meinem Besuch in Südkorea im Dezember 19971 zu Beginn der Asienkrise, noch einmal eindringlich vor Augen geführt. Die südkoreanischen Volkswirte wussten, dass die Maßnahmen, die der IWF ihrem Land aufdrängte, verheerende Folgen haben würden.
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Koreanische Beamte erklärten mir widerstrebend, sie hätten es nicht gewagt, offen zu widersprechen. Denn der IWF könne nicht nur seine eigenen Mittel abdrehen, sondern seinen enormen Einfluss auch dafür geltend machen, Anlagen privater Investmentfonds zu unterbinden, indem er Finanzinstituten des privaten Sektors seine Zweifel an der wirtschaftspolitischen Solidität Koreas mitteilte. Folglich hatte Korea keine Wahl. Folglich hatte Korea keine Wahl.
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Länder erhalten strikte Zielvorgaben - was in 30,60 und 90 Tagen erreicht sein soll. In einigen Fällen legten die Abkommen fest, was für Gesetze das Parlament des Landes verabschieden müsste, um die Anforderungen beziehungsweise "Zielvorgaben" des Landes zu erfüllen, und wann.
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Die Konditionen gehen über ökonomische Auflagen im engeren Sinne hinaus und berühren alle möglichen Politikfelder. Im Falle Koreas beispielsweise enthielt das Kreditabkommen eine Klausel, die eine Änderung des Zentralbankgesetzes forderte, damit die Zentralbank unabhängiger von politischer Einflussnahme, würde, obgleich kaum etwas dafür spricht, dass Länder mit unabhängigeren Zentralbanken höhere Wachstumsraten erzielen oder weniger ausgeprägte Konjunkturschwankungen haben.
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So wurde die koreanische Zentralbank mitten in der Korea-Krise dazu aufgefordert, sich aus- schließlich auf die Inflation zu konzentrieren, obgleich Korea keine bedenklich hohe Inflation hatte, und es gab keinen Grund zu der Annahme, eine schlechte Geldpolitik hätte zu der Krise beigetragen. Der IWF nutzte einfach die zusätzliche Macht, die ihm die Krise gab, um seine politischen Ziele durchzusetzen. Als ich das IWF-Team in Seoul fragte, warum es dies täte, bekam ich eine Antwort, die mich bestürzte (auch wenn ich es eigentlich hätte wissen können): Wir fordern immer eine unabhängige Zentralbank, die sich auf Inflationsbekämpfung konzentriert. Dies war eine Frage, zu der ich eine entschiedene Ansicht besaß. Als ich volkswirtschaftlicher Chefberater des US-Präsidenten war, wehrten wir den Versuch von Senator Connie Mack aus Florida ab, die Satzung der US-Zentralbank zu ändern und sie dazu zu verpflichten, sich ausschließlich der Inflationsbekämpfung zu widmen. Die Fed, die amerikanische Zentralbank, soll gemäß ihrem gesetzlichen Auftrag bei ihren geldpolitischen Entscheidungen nicht nur die Inflation, sondern auch den Beschäftigungsstand und das Wachstum berücksichtigen. Der Präsident war gegen die Satzungsänderung, und wir wussten, dass die Amerikaner der Ansicht waren, dass sich die Fed sowieso schon zu sehr auf die Inflation konzentriere. Der Präsident machte klar, dass dies eine Frage war, in der er nicht nachgeben würde, woraufhin die Befürworter einer Satzungsänderung einen Rückzieher machten. Dennoch erlegte der IWF - vor allem auf Druck des US-Finanzministeriums - Korea eine wirtschaftspolitische Kondition auf, die die meisten Amerikaner in ihrem Land abgelehnt hätten.
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So ritt den IWF selbst dann die Inflationsparanoia, als die Vereinigten Staaten die niedrigsten Inflationsraten seit Jahren verzeichneten. Seine Empfehlung war vorhersehbar: die Zinsen erhöhen, um die Wirtschaft zu drosseln.
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Die Vereinigten Staaten setzten sich über den Rat des IWF hinweg. Weder die Regierung Clinton noch die Federal Reserve gaben viel darauf. Die Vereinigten Staaten konnten dies ungestraft tun, weil sie nicht auf die Unterstützung des IWF oder an- derer Geldgeber angewiesen waren, und wir wussten, dass sich der Markt so wenig um die Empfehlungen scheren würde wie wir. Der Markt würde uns nicht dafür bestrafen, dass wir den Rat ignorierten, und uns nicht dafür belohnen, dass wir ihn befolgten. Doch arme Länder rund um die Erde sind nicht in einer so glücklichen Lage. Sie ignorieren die Empfehlungen des IWF zum eigenen Schaden.
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FREIHEIT DER WAHL ?

Wenn man einem Papagei den Spruch »fiskalische Austerität, Privatisierung und Marktöffnung« beigebracht hätte, dann hätte man in den achtziger und neunziger Jahren auf den Rat des IWF verzichten können. Denn dies waren seine drei Säulen der Empfehlungen nach dem »Washington Consensus«. Bei der »Bewertung« der Erfolgsbilanz des IWF sollten wir uns klar machen, dass diese Empfehlungen, sofern sie sachgerecht umgesetzt werden, sehr nützlich sind.
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Das Problem an dem »Washington Consensus« besteht darin, dass der IWF diese wirtschaftspolitischen Leitlinien als Selbstzweck betrachtet statt als Mittel zu einem gerechter verteilten und nachhaltigeren Wachstum. Dadurch erhalten diese Leitlinien im Vergleich zu anderen politischen Maßnahmen, die ebenfalls nötig gewesen wären, ein viel zu großes Gewicht.
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Die erfolgreichsten Entwicklungsländer, diejenigen in Ostasien, öffneten sich der Außenwelt langsam und wohl geordnet. Diese Länder nutzten die Globalisierung, um ihre Exporte zu steigern und dadurch ihr Wachstum zu beschleunigen. Aber sie bauten ihre "Schutzzäune" umsichtig und systematisch nur in dem Maße ab, wie neue Arbeitsplätze entstanden. Sie sorgten dafür, dass Kapital für die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Gründung neuer Unternehmen zur Verfügung steht, und sie übernahmen sogar eine unternehmerische Rolle bei der Förderung neuer Unternehmen. China ist gerade dabei, seine Handelsschranken ab- zubauen, zwanzig Jahre, nachdem es seinen Weg in die Marktwirtschaft angetreten hat und in denen seine Wirtschaft extrem schnell gewachsen ist. Jamaika, dem man eine allzu schnelle Liberalisierung aufnötigte, wurde 1992. durch subventionierte Billigmilch aus den Vereinigten Staaten überschwemmt, mit der Folge, dass viele der einheimischen Milchbauern ihren Markt verloren.
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Diejenigen im Westen, die mit der WTO die Handelsliberalisierung vorantrieben, haben gleichzeitig weiterhin jene binnenwirtschaftlichen Sektoren abgeschirmt, die durch die Konkurrenz aus Entwicklungsländern bedroht werden könnten. Tatsächlich war dies einer der Hauptgründe für den Widerstand gegen eine neue Handelsrunde, die eigentlich in Seattle beginnen sollte: Frühere Handelsrunden hatten die Interessen der entwickelten Industrienationen - beziehungsweise, um genauer zu sein. Sonderinteressen innerhalb dieser Länder - geschützt, ohne dass damit Vorteile für die weniger entwickelten Länder einhergegangen wären. Die Demonstranten wiesen zu Recht darauf hin, dass bei früheren Handelsrunden die Handelsschranken für Industriegüter, von Kraftfahrzeugen bis zu Maschinen, aus entwickelten Industriestaaten gesenkt wurden. Gleichzeitig zeigten die Unterhändler dieser Länder keinerlei Bereitschaft, ihre Subventionen für heimische Agrarprodukte abzubauen; sie schotteten die Märkte für diese Produkte und für Textilien ab, obwohl viele Entwicklungsländer hier im komparativen Vorteil sind.

Die jüngste Uruguay-Handelsrunde befasste sich erstmals mit dem Thema des freien Dienstleistungsverkehrs. Letztlich wurden die Märkte jedoch überwiegend für die Dienstleistungen der höchstentwickelten Länder geöffnet - Finanzdienstleistungen und Informationstechnologie -, nicht aber für den Gütertransport auf See und Baudienstleistungen, wo die Entwicklungsländer einen Fuß in die Tür hätten bekommen können. Die Vereinigten Staaten rühmten sich der Vorteile, die ihnen das Abkommen ein- bringe. Die Entwicklungsländer dagegen erhielten kein angemessenes Stück vom Kuchen. Nach einer Berechnung der Weltbank wird das Einkommen der afrikanischen Staaten südlich der Sahara, der ärmsten Region der Welt, aufgrund des Handelsabkommens um mehr als zwei Prozent sinken. Es gibt weitere Beispiele für Ungerechtigkeiten, die in der Dritten Welt immer stärker in die öffentliche Diskussion gelangen, auch wenn sie in den Industrieländern nur selten Schlagzeilen machen. Länder wie Bolivien haben ihre Handelsschranken nicht nur stärker abgebaut als die Vereinigten Staaten, sondern sie kooperieren mit den USA auch bei der Ausmerzung des Koka-Anbaus, der Kokain liefert, obwohl diese Feldfrucht den armen Bauern ein höheres Einkommen verschafft als alle anderen Alternativen. Die Vereinigten Staaten halten ihre Märkte jedoch für alternative Agrarprodukte, wie etwa Zucker, verschlossen, die die bolivianischen Landwirte für den Export anbauen könnten, sofern sie einen Absatzmarkt dafür hätten.
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Das Ganze wird noch schlimmer, wenn die Vereinigten Staaten einseitig handeln und sich nicht hinter dem Deckmantel des IWF verstecken.
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Die Rhetorik, mit der die US-Regierung ihrer Position Nachdruck verleiht, festigt das Bild von einer Supermacht, die bereit ist, sich für ihre Sonderinteressen stark zu machen. Mickey Kantor, der US-Handelsbeauftragte in der ersten Clinton-Regierung, wollte, dass China seine Märkte schneller öffnet.
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Die Weltbank - und jeder Volkswirt - betrachtet China mit seinem Pro-Kopf-Einkommen von 450 Dollar nicht nur als ein Entwicklungsland, sondern zudem als ein Entwicklungsland mit niedrigem Einkommen. Doch solche Tatsachen ließen einen hartgesottenen Unterhändler wie Kantor ziemlich kalt. Er bestand darauf, dass China ein Industrieland sei und aus diesem Grund nur eine kurze Anpassungsperiode zugestanden bekommen sollte.
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Ironischerweise haben die USA, die doch darauf bestanden, dass sich China als »Industrieland« schnell anpassen solle - und weil China die sich in die Länge ziehende Verhandlungszeit gut nutzte, konnte es diese Forderungen auch erfüllen -, für sich selbst beansprucht, so behandelt zu werden, als wären sie ein Entwicklungsland: Sie begnügten sich nicht mit der zehnjährigen Ubergangsfrist für den Abbau ihrer Handelsschranken gegen Textilimporte, die Teil der Verhandlungen von 1994 gewesen waren, sondern forderten weitere vier Jahre.
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Die amerikanische Forderung nach einer Liberalisierung der Finanzmärkte in China diente nicht der Stabilität der Weltwirtschaft, sondern den beschränkten Interessen der amerikanischen Finanzwelt, die das Ministerium mit Nachdruck vertrat.
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So negativ eine vorzeitige und schlecht geplante Handelsliberalisierung für die Entwicklungsländer auch war, die Öffnung des Kapitalmarktes hatte in vielerlei Hinsicht noch negativere Folgen. Die Liberalisierung des Kapitalmarkts geht mit der Beseitigung von Regulierungen einher, die spekulative Finanzströme (hot money) in einem Land steuern sollen - das sind kurzfristige Kredite und Kontrakte, die in der Regel nichts als riskante Wetten darauf sind, dass sich die Wechselkurse erholen werden.
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Um die mit diesen volatilen Kapitalbewegungen verknüpften Risiken zu kontrollieren, wird allen Ländern routinemäßig empfohlen, von ihren Währungsreserven einen Teil beiseite zu legen, der ihren kurzfristigen, auf ausländische Währungen lautenden Krediten entspricht. Um zu verstehen, was dies bedeutet, wollen wir annehmen, dass eine Firma in einem kleinen Entwicklungsland einen kurzfristigen Kredit über 100 Millionen Dollar zu einem Zins von 18 Prozent bei einer amerikanischen Bank aufnimmt. Wenn das Land eine umsichtige Politik betreiben wollte, müsste es seine Währungsreserven um 100 Millionen Dollar aufstocken. Im Allgemeinen werden Währungsreserven in Form US-amerikanischer Schatzwechsel gehalten, die gegenwärtig etwa vier Prozent Zinsen abwerfen. Das Land nimmt also in den USA einen Kredit zu 18 Prozent auf und gewährt den USA gleichzeitig einen Kredit zu vier Prozent. Dem Land als Ganzes stehen somit keine Ressourcen mehr für Investitionen zur Verfügung. Amerikanische Banken machen einen stattlichen Gewinn, und die USA insgesamt kassieren jährlich 14 Millionen Dollar an Zinsen. Aber es ist schwer zu ersehen, wie dies dem Entwicklungsland ermöglichen soll, sein Wachstum anzukurbeln. Anders gesagt, es ist offenkundig sinnlos.
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Die Rolle von Auslandsinvestitionen

Wenngleich Auslandsinvestitionen nicht zu den drei Eckpfeilern des »Washington Consensus« gehören, sind sie ein Schlüsselelement der neuen Globalisierung. Gemäß dem »Washington Consensus« entsteht Wachstum durch Liberalisierung, die Märkte »entfesseln« soll, und Privatisierung. Liberalisierung und gesamtwirtschaftliche Stabilität sollen ein Klima schaffen, das Investitionen auch aus dem Ausland anlockt. 
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Das Finanzgewerbe ist jedoch nicht das einzige Feld, auf dem ausländische Direktinvestitionen eine zweischneidige Sache sind. In einigen Fällen brachten neue Investoren (oft mit Hilfe von Schmiergeldern) Regierungen dazu, ihnen spezielle Vergünstigungen wie Zollschutz zu gewähren. In vielen Fällen warfen die Regierungen der USA, Frankreichs oder einer anderen entwickelten Industrienation ihr Gewicht in die Waagschale - und verstärkten damit die Sichtweise innerhalb der Entwicklungsländer, dass es völlig in Ordnung sei, wenn sich Regierungen einschalteten und Zahlungen aus der Privatwirtschaft annahmen. 
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In anderen Fällen wurde eine Regierung eingeschaltet, um das Gewicht einer anderen auszugleichen. In der Elfenbeinküste beispielweise unterstützte die französische Regierung das Bestreben von France Telecom, sich gegen die Konkurrenz einer unabhängigen (amerikanischen) Mobilfunkgesellschaft abzuschirmen, während sich die US-Regierung hinter die Forderungen der amerikanischen Firma stellte. 
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In Argentinien schaltete sich die französische Regierung ein, um eine Änderung der Konzessionsbedingungen für einen Wasserversorger (Aguas Argentinas) zu erreichen, nachdem die französische Muttergesellschaft (Suez Lyonnaise), die die Verträge unterzeichnet hatte, festgestellt hatte, dass sie nicht so profitabel waren, wie sie ursprünglich gedacht hatte. 

Am empörendsten aber ist, dass Regierungen einschließlich der US-Regierung andere Regierungen zwingen, Abkommen zu erfüllen, die Entwicklungsländer eklatant benachteiligen und oftmals von korrupten Regierungen unterzeichnet worden sind. Auf der APEC-Konferenz, die 1994 in Jakarta stattfand, ermunterte Präsident Clinton amerikanische Firmen dazu, sich in Indonesien zu engagieren. Viele taten es, und oftmals zu äußerst günstigen Bedingungen (mit Andeutungen, dass Bestechung »die Dinge erleichtern" würde - zum Nachteil des indonesischen Volks). In ähnlicher Weise förderte die Weltbank in Indonesien und anderen Ländern wie Pakistan Verträge mit privaten Energieversorgern. Diese Verträge verpflichteten die öffentliche Hand, große Mengen Strom zu sehr hohen Preisen abzunehmen (so genannte Langzeitlieferklauseln mit unbedingter Zahlungsverpflichtung). Der private Sektor strich die Gewinne ein, und der Staat trug die Risiken. Genau für diese Form von privatwirtschaftlichen Aktivitäten machten sich das US-Finanzministerium und die Weltbank stark. Das ist schon schlimm genug. Doch als die korrupten Regierungen gestürzt wurden (Suharto 1998 in Indonesien und Nawaz Sharif 1999 in Pakistan), setzte die US-Administration die neuen Regierungen unter Druck, die Verträge zu erfüllen, statt sie von ihren Zahlungsverpflichtungen zu entbinden oder wenigstens die Vertragsbedingungen neu zu verhandeln. Tatsächlich gibt es eine lange Liste "unfairer" Verträge, deren Erfüllung westliche Regierungen durch Druck erreichten. 
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Die zeit- und sachgerechte Koordinierung der Policy-Empfehlungen des IWF

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Viele der Fehler, die dem IWF bei der zeitlichen Abstimmung seiner Maß- nahmen unterlaufen sind, spiegeln fundamentale Missverständnisse volkswirtschaftlicher und politischer Prozesse wider, denen besonders Anhänger der reinen marktwirtschaftlichen Lehre immer wieder aufsitzen. 
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Die wirtschaftspolitische Programmatik des »Washington Consensus« basiert jedoch auf einem grob vereinfachenden Modell der Marktwirtschaft, dem Gleichgewichtsmodell des voll- kommenen Wettbewerbs, in dem Adam Smith' unsichtbare Hand perfekt funktioniert. Weil in diesem Modell der Staat nicht benötigt wird - denn die freien, entfesselten, »liberalen« Märkte funktionieren ja vollkommen -, werden die wirtschaftspolitischen Leitlinien des »Washington Consensus« gelegentlich auch als »neoliberal« oder »marktfundamentalistisch« bezeichnet, eine Art Wiederbelebung der Laissez-faire-Politik, die im 19. Jahrhundert in manchen Kreisen populär war. 
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Die früher beschriebenen Fehler bei der Liberalisierung des Handels, der Kapitalmärkte und der Privatisierung stellen sachliche Koordinierungsfehler in großem Maßstab dar. Die Abstimmungsfehler in kleinerem Maßstab werden in der westlichen Presse kaum beachtet. Sie stellen die alltäglichen Tragödien der wirtschaftspolitischen Programme des IWF dar, die die Not der Ärmsten in der Dritten Welt noch weiter verschlimmern. So haben beispielsweise viele Länder Vertriebskommissionen gegründet, die Agrarprodukte von Landwirten kaufen und diese im In- und Ausland vermarkten. 
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Mehrere westafrikanische Staaten zogen sich auf Druck des IWF aus dem Geschäft mit Vertriebskommissionen zurück und machten ähnliche Erfahrungen. Als die Vertriebskommission verschwand, entstand ein Netz örtlicher Monopole, weil es sich nur wenige Bauern leisten konnten, einen LKW zu kaufen, der ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse an ferne Orte transportiert, um sie dort zu verkaufen. Kapitalmangel beschränkte den Zugang zu diesem Markt. Da Banken weitgehend fehlten, konnten die Bauern auch keine Kredite aufnehmen, um ein kleines Fuhrunternehmen zu gründen. Manchmal konnten sich Bauern LKWs besorgen, die ihre Güter transportierten, und der Markt funktionierte anfänglich; doch dann wurde dieses lukrative Geschäft zur Domäne der örtlichen Mafia. Die - per Saldo - positiven Effekte, die IWF und Weltbank versprochen hatten, blieben aus. Die Staatseinnahmen sanken, den Kleinbauern ging es, wenn überhaupt, kaum besser als zuvor, und ein paar örtliche Geschäftsleute (Mafiosi und Politiker) füllten sich die Taschen. 

Viele Vertriebskommissionen betreiben zudem eine Politik der Einheitspreise - sie bezahlen allen Bauern den gleichen Preis, ganz gleich, wo ihre Höfe liegen. Auch wenn diese Politik scheinbar »fair« ist, melden Volkswirte Bedenken an, weil marktnähere Bauern die marktferneren subventionieren müssen. 
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Der IWF zwang ein afrikanisches Land dazu, seine Politik der Einheitspreise aufzugeben, bevor ein ausreichen- des Straßensystem errichtet worden war. Der Preis, den Landwirte in entlegeneren Gebieten erhielten, fiel plötzlich deutlich geringer aus, weil sie die Beförderungskosten tragen mussten. Infolgedessen gingen die Einkommen in einigen der ärmsten ländlichen Regionen des Landes stark zurück, so dass es zu einer massiven Verelendung kam. 
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Aus diesem Grund schenkt eine erfolgreiche Entwicklung der sozialen Stabilität große Beachtung - eine wichtige Lehre nicht nur aus Ostasien, sondern auch aus der Geschichte Botsuanas und aus Indonesien, wo der IWF auf der Abschaffung der Subventionen für Nahrungsmittel und Kerosin (der Brennstoff, den die Armen zum Kochen verwenden) bestand, während schon die Auflagenpolitik des IWF das Land noch tiefer in die Rezession getrieben hatte. Die durch sinkende Einkommen und Löhne und rasch ansteigende Arbeitslosigkeit ausgelösten Ausschreitungen zerstörten das soziale Gefüge des Landes, was die anhaltende Depression noch verschlimmerte. Die Abschaffung der Subventionen war nicht nur schlechte Sozial-, sondern auch schlechte Wirtschaftspolitik. 
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Die Bürokraten internationaler Organisationen, die sich für eine rasche Liberalisierung einsetzen, glauben in vielen Fällen an die volkswirtschaftliche Trickle-down-Theorie (Theorie vom "Durchsickern" von Einkommens- und Wachstumseffekten von oben nach unten), die heute wegen ihrer allgemein bekannten Schwächen weitgehend außer Mode gekommen ist. 
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Tatsächlich behinderten diejenigen, die fest an »Trickle-down-Plus« glaubten, Länder bei der Bewältigung dieser Probleme. Die übermäßig strengen "Anpassungspolitiken", die einem Land nach dem anderen auferlegt wurden, erzwangen Abstriche im Bildungs- und Gesundheitswesen: In Thailand nahm infolgedessen nicht nur die weibliche Prostitution zu, sondern auch die Ausgaben für die AIDS-Bekämpfung wurden deutlich zusammengestrichen, so dass eines der weltweit erfolgreichsten Programme zur AIDS-Bekämpfung einen herben Rückschlag erlitt. 
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Nicht nur das, was der IWF auf seine Tagesordnung setzt, sondern auch, was er weglässt, ist von Bedeutung. Die Stabilisierung steht auf der Agenda, die Schaffung von Arbeitsplätzen nicht. Die Besteuerung und ihre negativen Auswirkungen stehen auf der Agenda, die Bodenreform nicht. Der IWF stellte öffentliche Kredite zur Verfügung, um die Forderungen von (privaten) Banken abzudecken, nicht aber, um das Bildungssystem und die gesundheitliche Versorgung zu verbessern, geschweige denn, um Arbeitnehmern zu helfen, die infolge der übergreifenden Misswirtschaft des IWF ihre Arbeitsplätze verlieren. 
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Ein anderer vernachlässigter Punkt ist die Regulierung des Finanzsektors. Der IWF, der sich auf die Krisen in Lateinamerika konzentrierte, vertrat die Auffassung, dass Krisen durch eine unbesonnene Fiskalpolitik und eine Politik des billigen Geldes ausgelöst wurden. Doch Krisen rund um die Welt hatten eine dritte Quelle der volkswirtschaftlichen Instabilität offen gelegt: die unzureichende Regulierung des Finanzsektors. Dennoch drängte der IWF auf eine Deregulierung, bis er durch die Ostasienkrise gezwungen wurde, seinen Kurs zu ändern. Während der IWF und der »Washington Consensus« der Bodenreform und der Regulierung des Finanzsektors eine zu geringe Bedeutung beimaßen, haben sie der Inflation vielfach ein zu großes Gewicht beigemessen. Natürlich war die grassierende Inflation in Regionen wie Lateinamerika ein Problem, das Beachtung verdiente. Doch der überzogene Stellenwert, den der IWF der Inflation einräumte, führte zu hohen Zinsen und hohen Wechselkursen und sorgte nicht für Wachstum, sondern für Arbeitslosigkeit. Den Finanz- märkten mögen die niedrigen Inflationszahlen zugesagt haben, doch die Arbeitnehmer - und alle, die von Armut betroffen waren - waren über das niedrige Wachstum und die hohe Arbeitslosigkeit nicht froh. 
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Es geht vielmehr darum, inwieweit die wirtschaftspolitischen Programme auch das Problem der Armut angehen. Die Armen sind nicht faul: Sie arbeiten oftmals härter und länger als diejenigen, denen es viel besser geht. 
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Mit der Armut ist oft das Gefühl der Ohnmacht verbunden.
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Und die Armen spüren eine tiefe existenzielle Unsicherheit.
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Um diese Unsicherheit zu mildern - ob sie in der Launenhaftigkeit eines ausbeuterischen Chefs oder der Launenhaftigkeit eines Marktes besteht, über den in zunehmendem Maße internationale Stürme hinwegfegen -, kämpfen die Arbeitnehmer für eine größere Arbeitsplatzsicherheit. Doch so hart die Arbeitnehmer für einen »arbeitsrechtlichen Mindestschutz« kämpften, so hart kämpfte der IWF für die »Flexibilisierung des Arbeitsmarktes«; dies hört sich nach einer ökonomisch sinnvollen Forderung an, die jedoch in der Praxis nur eine euphemistische Umschreibung für Lohnsenkungen und höhere Unsicherheit des Arbeitsplatzes ist. 
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Der IWF hat nicht nur die Risiken seiner Entwicklungsstrategien für die Armen, sondern auch die langfristigen sozialen und politischen Kosten seiner wirtschaftspolitischen Empfehlungen unterschätzt, die oftmals zum Niedergang der Mittelschicht führten und ein paar Reiche noch reicher machten. 
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Es gibt Alternativen zu den Entwicklungs-, Krisenbewältigungs-und marktwirtschaftlichen Transformationsstrategien des »Washington Consensus«, die allesamt weniger auf der Ideologie des Marktes basieren. Diese Alternativen stützen sich zwar auf Märkte, messen jedoch auch dem Staat eine wichtige Rolle bei. Sie erkennen die Bedeutung von Reformen an, aber diese Reformen müssen in sach- und zeitgerechter Reihenfolge durchgeführt werden. 
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Es ist wichtig, in Zukunft Alternativen auszuprobieren und auszuloten. Noch wichtiger ist es, dass die Länder in Zukunft im Rahmen demokratischer politischer Willensbildungsprozesse für sich selbst entscheiden. Die internationalen Wirtschaftsinstitutionen sollten den Ländern die notwendigen Informationen für sachlich fundierte Entscheidungen bereitstellen, einschließlich einer Bewertung der Folgen und Risiken sämtlicher Optionen. Das Wesen der Freiheit ist das Recht, selbstständig zu entscheiden - und die Verantwortung zu übernehmen, die mit der Entscheidung einhergeht.
 

DIE OSTASIEN-KRISE

Die Währungsspekulation griff um sich und traf Malaysia, Südkorea, die Philippinen und Indonesien, und am Ende des Jahres drohte das, was als ein Wechselkursverfall begonnen hatte, viele Banken, Börsen und sogar ganze Volkswirtschaften in den Abgrund zu reißen.
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Da der IWF gegründet wurde, um Krisen dieser Art zu verhindern und zu bewältigen, führte sein vielfältiges Scheitern zu einer grundlegenden Hinterfragung seiner Rolle, und viele Menschen in den Vereinigten Staaten und in anderen Ländern forderten eine Revision seiner wirtschaftspolitischen Programmatik und der Institution selbst. Tatsächlich zeigte sich im Rückblick, dass die Politik des IWF die Abschwünge nicht nur verschlimmerte, sondern mit auslöste: Die vorschnelle Liberalisierung der Finanz- und Kapitalmärkte war vermutlich für sich genommen die wichtigste Ursache der verschiedenen Krisen, auch wenn eine verfehlte Wirtschaftspolitik seitens der betroffenen Länder selbst ebenfalls eine Rolle spielte.
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Wie war es möglich, so fragte ich mich, dass diese Institutionen, wenn sie wirklich so verkommen waren, so lange so gut funktioniert hatten? Die anderen Einschätzungen von IWF und US-Finanzministerium ergaben für mich wenig Sinn, bis ich mich an die Debatte erinnerte, die über das ostasiatische Wirtschafts- wunder selbst getobt hatte. IWF und Weltbank hatten es geradezu absichtlich vermieden, die Region genauer unter die Lupe zu nehmen, während es doch aufgrund ihres Erfolgs nahe gelegen hätte, dort nach Lektionen für andere zu suchen. Erst unter dem Druck der Japaner hatte die Weltbank eine Studie über das Wirtschaftswachstum in Ostasien durchgeführt (der Abschlussbericht trug den Titel »Das Wirtschaftswunder in Ostasien"), und auch erst nachdem sich die Japaner bereit erklärt hatten, die Studie zu finanzieren. Der Grund lag auf der Hand: Die Länder waren nicht nur trotz der Tatsache, dass sie die meisten Diktate des »Washington Consensus« nicht befolgt hatten, sondern weil sie es nicht getan hatten, erfolgreich gewesen. 
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Eine Krise würde sich verheerend auf ihre Volkswirtschaften und ihre Gesellschaften auswirken, und sie befürchteten, dass die Auflagen des IWF sie davon abhalten würden, jene Maßnahmen zu ergreifen, die ihres Erachtens die Krise abwenden könnten, während zugleich die Maßnahmen, auf denen sie bestehen würden, ihre Volkswirtschaften bei Ausbruch einer Krise noch stärker in Mitleidenschaft ziehen würden. Sie hatten jedoch das Gefühl, sich dem nicht widersetzen zu können. Sie wussten sogar, welche Maßnahmen zur Schadensbegrenzung notwendig waren - aber sie wussten auch, dass der IWF ihnen die Rote Karte zeigen würde, wenn sie diese Maßnahmen ergriffen, und sie fürchteten, dass es dann zu einem massiven Abzug internationalen Kapitals kommen würde. Letztlich war nur Malaysia mutig genug, sich dem Zorn des IWF auszusetzen; und obgleich die Wirtschaftspolitik von Premierminister Mahathir - das Bemühen, die Zinsen niedrig zu halten und den raschen Abfluss spekulativer Gelder zu bremsen - von allen Seiten heftig angegriffen wurde, war der Abschwung in Malaysia kürzer und flacher als in allen anderen Ländern der Region. 
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In mehreren der Krisenländer bezeichnen gewöhnliche Menschen, aber auch Regierungsvertreter und Geschäftsleute den wirtschaftlichen und sozialen Sturm, der über ihre Nationen hinwegfegte, schlicht als "der IWF« - so wie man "die Pest" oder "die Weltwirtschaftskrise" sagen würde. Die Geschichte wird in die Zeit vor und nach dem "IWF" eingeteilt, so wie Länder, die von einem Erdbeben oder einer anderen Naturkatastrophe verwüstet werden, von der Zeit "vor" und "nach" der Katastrophe sprechen. 
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Die Störungen beendeten eine fünfjährige Phase, in der Amerika nach dem Ende des Kalten Krieges den globalen Triumphzug der freien Marktwirtschaft angeführt hatte. In dieser Zeit konzentrierte sich die internationale Aufmerksamkeit auf die neuen emerging markets von Ostasien bis Lateinamerika und von Russland bis Indien. 
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Internationale Banken und Politiker waren fest davon überzeugt, dass dies der Anbruch einer neuen Ära sei. Der IWF und das US-Finanzministerium glaubten - oder behaupteten zumindest -, dass eine vollständige Liberalisierung des Kapitalverkehrs der Region helfen würde, sogar noch schneller zu wachsen. 
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Die Liberalisierung des Kapitalmarkts liefert die Entwicklungsländer auf Gedeih und Verderb den rationalen und irrationalen Launen der Investoren aus, ihrem irrationalen Überschwang und Pessimismus.
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Vor der Liberalisierung unterlag die Kreditvergabe der Banken [Thailands] für spekulative Immobiliengeschäfte starken Beschränkungen, die man auferlegt hatte, weil das arme Land sich entwickeln sollte und weil die Regierung der Ansicht war, dass die Investition der knappen Finanzmittel ins verarbeitende  Gewerbe sowohl Arbeitsplätze schaffen als auch das Wachstum ankurbeln würde. Die Verantwortlichen wussten, dass überall auf der Welt die Vergabe von Krediten für spekulative Immobiliengeschäfte eine Hauptursache für wirtschaftliche Instabilität ist. Derartige Immobilienkredite erzeugen » Seifenblasen «, die immer platzen und dann eine schwere Wirtschaftskrise auslösen. 
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Der IWF behauptet jedoch, solche Beschränkungen beeinträchtigen die effiziente marktgesteuerte Verteilung von Ressourcen. Wenn der Markt sagt: »Baut Bürogebäude!«, dann muss die Errichtung gewerblicher Bauten die Aktivität sein, die die höchsten Renditen einbringt. Und auch wenn der Markt sagt: "Baut leerstehende Bürogebäude", wie es nach der Liberalisierung faktisch der Fall war, dann muss der Markt es, nach der Logik des IWF, am besten wissen. 
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Natürlich hat nicht nur der IWF auf Liberalisierungen gedrängt. Das US-Finanzministerium, das als Repräsentant des größten Anteilseigners des IWF und des einzigen Mitgliedslandes mit Vetorecht einen starken Einfluss auf die Programme des IWF ausübt, drängte ebenfalls auf Liberalisierung. 
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Die Regierung [Südkoreas] hatte die Lektionen aus den USA beherzigt, wo die Deregulierung in dem Sparkassen-Debakel in den achtziger Jahren gipfelte. Daher hatte Südkorea seine Liberalisierungsstrategie sorgfältig ausgearbeitet. Diese Öffnung ging jedoch der Wall Street zu langsam, wo man profitable Geschäftschancen witterte und nicht warten wollte. Obgleich die Wall Streeter für die Grundsätze der freien Marktwirtschaft und eine beschränkte Rolle des Staates eintreten, waren sie sich doch nicht zu gut, die Regierung um Unterstützung für ihre Anliegen zu ersuchen. Wie wir sehen werden, reagierte das Finanzministerium sehr drastisch. Im Sachverständigenrat waren wir nicht der Ansicht, dass die Liberalisierung in Südkorea eine Frage von nationalem Interesse sei, auch wenn sie zweifellos den Sonderinteressen der Wall Street förderlich war. Wir waren auch besorgt über ihre Auswirkungen auf die globale Stabilität. Wir schrieben ein Memorandum beziehungsweise eine "Denkschrift", die die Probleme darlegen, eine Diskussion anregen und die Aufmerksamkeit auf die Sache lenken sollte. Wir formulierten eine Reihe von Kriterien, mit denen sich beurteilen ließ, welche Maßnahmen zur Marktöffnung für die nationalen Interessen der Vereinigten Staaten am wichtigsten waren. 
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Der Nationale Wirtschaftsrat, den damals Robert Rubin leitete, der frühere Chef von Goldman Sachs, einer der größten Investmentbanken an der Wall Street (und der nach seinem Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst Co-Vorsitzender des Verwaltungsrats der Citigroup wurde, einer der größten Banken der Welt), befand, die Frage sei nicht wich- tig genug, um dem Präsidenten vorgelegt zu werden. Die Denkschrift wurde zurückgehalten. Der eigentliche Grund für den Widerstand war nur allzu offensichtlich. Von vielen Formen des "Marktzugangs" profitieren die USA kaum. Während einige spezifische Gruppen erheblichen Nutzen daraus ziehen mochten, würde das Land insgesamt kaum davon profitieren. Schlimmer noch, es war nicht einmal klar, ob die USA insgesamt Vorteile erzielen würden, dagegen stand fest, dass Südkorea möglicher- weise schlechter dastehen würde. Das US-Finanzministerium vertrat die gegenteilige Auffassung." 
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Die Diskussion fand hinter verschlossenen Türen statt; vielleicht wäre ein anderes Ergebnis herausgekommen, wenn andere Stimmen angehört worden und die Willensbildung transparenter gewesen wären. Stattdessen setzte sich das Finanzministerium durch, und die USA, Korea und die Weltwirtschaft verloren. 
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Die erste Fehlerrunde

Zweifellos erhöhte die Politik von IWF und US-Finanzministerium die Wahrscheinlichkeit einer Krise, indem sie zu einer ungerechtfertigt schnellen Liberalisierung der Finanz- und Kapitalmärkte ermunterte, ja sie forderte. 
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Heute räumt der IWF ein, dass er einen zu strengen fiskalpolitischen Sparkurs empfohlen habe." Diese Sparpolitik machte die Rezession viel schlimmer, als sie hätte sein müssen. Dennoch verteidigte der stellvertretende geschäftsführende Exekutivdirektor des IWF, Stanley Fischer, während der Krise die Politik des IWF in der Financial Times, er schrieb, dass der IWF von den Ländern doch nur einen ausgeglichenen Haushalt erwarte! 
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Als ich Mitglied des Wirtschaftssachverständigenrats war, drehte sich eine unserer zentralen Kontroversen um den Zusatzartikel in der Verfassung, der einen ausgeglichenen Haushalt fordert. Wir und das Finanzministerium waren dagegen, weil wir dies für schlechte Wirtschaftspolitik hielten.
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Trotz der Tatsache, dass eine expansive Fiskalpolitik einer der wenigen Auswege aus der Rezession war und trotz der Heuchelei, die darin lag, anderen Ländern etwas zu empfehlen, was man selbst nicht einhielt, setzten sich das US-Finanzministerium und der IWF für die Aufnahme von Klauseln, die einen ausgeglichenen Staatshaushalt forderten, in die Verfassungen von Thailand, Südkorea und anderen ostasiatischen Ländern ein. 
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Als der Fonds in Ostasien aktiv wurde, zwang er die Länder, die Zinsen auf ein nach herkömmlichen Maßstäben astronomisches Niveau anzuheben. Ich erinnere an Präsident Clintons Enttäuschung, dass die US-Notenbank unter ihrem von früheren Administrationen er- nannten Präsidenten Alan Greenspan die Leitzinsen um 0,25 oder 0,5 Prozentpunkte anheben wollte. Er befürchtete, dies würde »seinen« Aufschwung zunichte machen. 
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Doch in Asien erzwangen IWF-Bürokraten, die politisch noch weniger rechenschaftspflichtig sind, Zinserhöhungen, die nicht zehn-, sondern fünfzigmal größer waren - Zinserhöhungen von über 2,5 Prozentpunkten. Wenn Clinton schon über die negativen Auswirkungen einer Zinserhöhung um 0,5 Prozent auf einen sich gerade anbahnenden Aufschwung besorgt war, hätte ihn der Effekt einer Erhöhung um 25 Prozentpunkte auf eine Volkswirtschaft, die auf eine Rezession zusteuerte, zur Weißglut getrieben. Südkorea erhöhte seine Zinssätze zunächst auf 25 Prozent, doch dann wurde der Regierung mitgeteilt, wenn sie es ernst meine, müsse sie die Zinsen noch weiter erhöhen. 
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Tatsächlich war eine übermäßige Fremdfinanzierung wiederholt als eine der Schwächen Südkoreas genannt worden, selbst vom IWF. Hoch ver- schuldete Firmen reagieren besonders empfindlich auf Zinserhöhungen, vor allem auf die extrem hohen Zinsen, die der IWF forderte. Bei sehr hohen Zinssätzen geht ein Unternehmen mit hohem Fremdkapitalanteil schnell Bankrott.
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Der Fonds erkannte, dass schwache Finanzinstitute und überschuldete Firmen die grundlegenden Probleme Ostasiens waren - dennoch setzte er eine Hochzinspolitik durch, die diese Probleme nur noch verschärfte. 
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Als ich mich beim IWF für eine Strategieänderung einsetzte und auf die Katastrophe hinwies, die entstehen könnte, wenn er seine gegenwärtige Strategie fortsetze, erhielt ich die barsche Antwort: Falls es sich erweisen sollte, dass ich Recht hätte, würde der Fonds seine Strategie ändern. Ich war entsetzt über diese abwartende Haltung. 
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Genau diese Schäden wurden in Ostasien angerichtet. Weil viele Firmen hoch verschuldet waren, wurden viele in den Konkurs getrieben. In Indonesien gerieten schätzungsweise 75 Prozent aller Unternehmen in eine finanzielle Schieflage, während in Thailand annähernd fünfzig Prozent der Bankkredite notleidend wurden. 
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Im Jahr 1997 erklärte sich Japan bereit, einen zu gründenden Asiatischen Währungsfonds mit 100 Milliarden Dollar auszustatten, mit denen die notwendigen stimulativen Maßnahmen finanziert werden sollten. Doch Finanzminister Robert Rubin und sein Stellvertreter Summers setzten alles daran, die Idee abzuwürgen. Der IWF stimmte ein. Der Grund für den Standpunkt des IWF lag auf der Hand: Während der IWF den freien Wettbewerb auf den Märkten entschieden befürwortete, duldete er in seiner eigenen Domäne keinen Wettbewerb, und der Asiatische Währungsfonds hätte genau dies bedeutet. Die Motive des US-Finanzministeriums waren ähnlich gelagert. Als der einzige Anteilseigner des IWF mit Vetorecht hatten die USA einen erheblichen Einfluss auf die Grundsatzpositionen des IWF. Es war allgemein bekannt, dass Japan die Maßnahmen des IWF entschieden ablehnte - bei mehreren Treffen mit hochrangigen japanischen Regierungsvertretern äußerten diese ihre Kritik an der Auflagenpolitik des IWF, die sich weitgehend mit meinen Einwänden deckte." Japan und möglicherweise China als die mutmaßlichen Haupteinzahler des Asiatischen Währungsfonds hätten dort das Sagen und würden so die amerikanische » Führung« - und Kontrolle - vor eine echte Herausforderung stellen. 

Zu Beginn der Krise zeigte sich besonders deutlich, wie wichtig Kontrolle - auch Kontrolle über die Medien - ist. Als der für Ostasien zuständige Vizepräsident der Weltbank, Jean Michel Severino, in einer viel beachteten Rede darauf hinwies, dass mehrere Länder der Region auf eine schwere Rezession beziehungsweise Depression zusteuerten, verpasste ihm Summers verbal eine schallende Ohrfeige. Die Verwendung des R(für Rezession)- und D(für Depression)-Worts war schlicht mit einem Tabu belegt, ob- gleich damals klar war, dass das indonesische Bruttoinlandsprodukt vermutlich zwischen zehn und fünfzehn Prozent schrumpfen würde - eine Größenordnung, die zweifelsfrei die Verwendung dieser harten Wörter rechtfertigte. Schließlich konnten Summers, Fischer, das US-Finanzministerium und der IWF die Depression nicht länger ignorieren. Japan machte erneut ein großzügiges Hilfsangebot, die so genannte Miyazawa-lnitiative, benannt nach dem japanischen Finanzminister. Diesmal wurde das Angebot auf dreißig Milliarden Dollar herabgesetzt und angenommen. Doch die USA forderten noch immer, das Geld solle nicht für die Ankurbelung der Wirtschaft durch Erhöhung der Staatsausgaben verwendet werden, sondern für die Umstrukturierung des Unternehmens- und Finanzsektors - faktisch also, um die Forderungen amerikanischer und sonstiger ausländischer Banken sowie anderer Gläubiger zu befriedigen. Das Abwürgen der Idee eines Asiatischen Währungsfonds wird in Asien noch heute übel genommen. 

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WER HAT RUSSLAND ZUGRUNDE GERICHTET ?

Mit dem Fall der Berliner Mauer Ende 1989 begann eine der bedeutendsten wirtschaftlichen Transformationen aller Zeiten. Es war das zweite kühne wirtschaftliche und soziale Experiment des 2,0. Jahrhunderts. Das erste war der kommunistische Systemwechsel siebzig Jahre zuvor gewesen. 
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Der zweite ökonomische Systemübergang in Russland sowie in Ost- und Südosteuropa ist keineswegs abgeschlossen, aber so viel steht fest: Er ist in Russland weit hinter den Versprechungen beziehungsweise Hoffnungen der Befürworter der Marktwirtschaft zurückgeblieben. Für die meisten Menschen, die in den Nachfolgestaaten der einstigen Sowjetunion leben, sind die Existenzbedingungen im Kapitalismus noch schlechter, als es die altkommunistischen Kader vorhersagten. Und die Zukunftsaussichten sind düster. Die Mittelschicht wurde zerstört, ein System von Nepotismus und Mafia-Kapitalismus geschaffen, und die einzige Errungenschaft, die Errichtung einer Demokratie mit effektiven Freiheitsrechten wie etwa Pressefreiheit, steht auf überaus tönernen Füßen, wie man insbesondere daran ersieht, dass vormals unabhängige Fernsehsender nacheinander geschlossen werden. Auch wenn die Entscheidungsträger in Russland erheblichen Anteil an den Ereignissen haben, trifft die westlichen Berater, allen voran die aus den Vereinigten Staaten und des IWF, die schon bald zur Stelle waren, um das Evangelium der Marktwirtschaft zu predigen, eine Mitschuld. 
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So viel ist klar: Die Einkommen sind heute deutlich niedriger als vor zehn Jahren, und die Armut ist viel größer. Die Pessimisten sehen eine Atommacht, die von politischer und sozialer Instabilität bedroht ist. Die Optimisten (!) sehen ein halb autoritäres Regime, das die innere Ordnung gewährleistet, aber um den Preis des Verlusts demokratischer Freiheiten. 
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Einige der Protagonisten der zweiten Revolution in den neunziger Jahren glaubten zunächst, dass die Russen, befreit von den Fesseln des Kommunismus, rasch die Vorteile des Marktes erkennen würden. Doch einige der marktwirtschaftlichen Reformer in Russland (sowie ihre westlichen Unterstützer und Berater) hatten sehr wenig Vertrauen oder Interesse an der Demokratie; sie befürchteten, dass das russische Volk, wenn es frei wählen könnte, sich nicht für das "richtige" (das heißt ihr) ökonomische Modell entscheiden würde. 
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Es ist nicht verwunderlich, dass die marktwirtschaftlichen Reformer in ähnlicher Weise agierten wie die früheren Kommunisten: In Russland fühlte sich Präsident Jelzin, der über eine sehr viel größere Machtfülle gebot als all seine Amtskollegen in westlichen Demokratien, dazu ermutigt, die demokratisch gewählte Duma (das Parlament) zu umgehen und marktwirtschaftliche Reformen per Dekret durchzusetzen. Es ist, als würden die marktwirtschaftlichen Bolschewiken, die einheimischen "Rechtgläubigen", und die westlichen Experten und Prediger der neuen Wirtschaftsreligion, die in die postsozialistischen Länder drängten, eine milde Version der Leninschen Methoden benutzen, um den Übergang in die postkommunistische, "demokratische" Ära zu vollziehen. 
 

Herausforderungen und Chancen der Transformation

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Dies lag nicht etwa daran, dass sie geglaubt hätten, diese Lehren seien in Anbetracht der russischen Geschichte (oder der Geschichte der anderen Transformationsländer) irrelevant. Vielmehr ignorierten sie aus einem einfachen Grund den Rat russischer Experten auf den Gebieten Geschichte, Wirtschaft und Gesellschaft: Sie glaubten, dass die bevorstehende marktwirtschaftliche Revolution das gesamte Wissen der Geschichtswissenschaft, der Soziologie und anderer Disziplinen zu Makulatur erklären würde. Die marktwirtschaftlichen Fundamentalisten predigten die reine Volkswirt- schaftstheorie der Lehrbücher - ein grob vereinfachtes Modell der Marktwirtschaft, das der Dynamik des Wandels kaum Beachtung schenkte. 
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Die Ansichten der nachdrücklich vom US-Finanzministerium
und vom IWF unterstützten Schocktherapeuten setzten sich in den meisten Ländern durch. Die sanften Reformer dagegen waren der Ansicht, die Umstellung auf ein marktwirtschaftliches System lasse sich besser bewältigen, wenn man allmählich und der Reihe nach vorginge. Man brauchte keine vollkommenen In- stitutionen, aber, um nur ein Beispiel zu nennen, wenn man ein Monopol privatisierte, bevor ein funktionsfähiger Wettbewerb herrschte oder eine Aufsichtsbehörde eingerichtet war, würde man womöglich ein staatliches Monopol nur durch ein privates Monopol ersetzen, das den Verbraucher vielleicht noch schamlo- ser ausbeutete.
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Chronik der »Reform«

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Vor lauter marktwirtschaftlichem Überschwang wurden die meisten Preise 1992 über Nacht freigegeben; dies löste eine Inflation aus, die die Ersparnisse vernichtete und das Problem der makroökonomischen Stabilität ganz oben auf die Tagesordnung setzte. Allen war klar, dass bei einer Hyperinflation (einer zweistelligen monatlichen Inflationsrate) der Erfolg der Transformation stark gefährdet war. Daher erforderte die erste schocktherapeutische Maßnahme - die sofortige Freigabe der Preise - eine zweite schocktherapeutische Intervention zur Eindämmung der Inflation. Hierzu bedurfte es einer restriktiven Geldpolitik, also wurden die Zinssätze heraufgesetzt. Die meisten Preise wurden vollständig freigegeben, einige der wichtigsten Preise (die für Bodenschätze) dagegen niedrig gehalten. Angesichts der jüngst proklamierten "Marktwirtschaft" kam dies einer offenen Einladung gleich: Wer etwa Erdöl kaufen und in den Westen weiterverkaufen könnte, würde Millionen oder gar Milliarden von Dollar verdienen. 
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Liberalisierung und Stabilisierung waren zwei Eckpfeiler der radikalen Reformstrategie des IWF. Zügige Privatisierung war der dritte. Aber die ersten beiden Eckpfeiler standen dem dritten im Weg. Die anfängliche hohe Inflation hatte die Ersparnisse der meisten Russen vernichtet, so dass es im Land nur wenige Menschen gab, die das Geld hatten, um die zu privatisierenden Unternehmen zu kaufen. 
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Die Strategie des IWF ging nicht auf: Nach 1989 fiel das russische Bruttoinlandsprodukt Jahr für Jahr. Aus der erwartet kurzen Rezession in der Ubergangsphase wurde eine Rezession, die über zehn Jahre dauerte. Der Boden schien nie in Sicht zu kommen. Russland erlitt größere volkswirtschaftliche Verluste - gemessen am Rückgang des BIP - als während des Zweiten Weltkriegs. In dem Zeitraum 1940-46 fiel die Industrieproduktion der Sowjetunion um 24 Prozent. Im Zeitraum 1990-99 sank die russische Industrieproduktion um fast sechzig Prozent - was sogar den Rückgang des BIP (54%) noch übertraf. Diejenigen, die Kenntnisse über den früheren, kommunistischen Systemwechsel in der russischen Revolution besaßen, zogen sogar Vergleiche zwischen diesem sozioökonomischen Trauma und der Transformation nach 1989: Der Viehbestand ging um die Hälfte zurück, die Investitionstätigkeit in der verarbeitenden Industrie kam fast völlig zum Erliegen. Russland konnte bescheidene ausländische Investitionen für seine Bodenschätze erlangen; Afrika hatte schon vor langer Zeit gezeigt, dass es leicht ist, ausländische Investoren anzulocken, wenn man den Preis für Bodenschätze nur stark genug senkt. 

Das Stabilisierungs-, Liberalisierungs- und Privatisierungsprogramm war natürlich kein Wachstumsprogramm. Es sollte die Voraussetzungen für Wachstum schaffen. Stattdessen schuf es die Voraussetzungen für den Niedergang. Nicht nur die Investitionen kamen zum Erliegen, sondern das vorhandene Kapital wurde auch rasch aufgezehrt - die Ersparnisse lösten sich aufgrund der hohen Inflation in Luft auf, die Privatisierungserlöse und die ausländischen Kredite wurden größtenteils veruntreut. Die Privatisierung, die mit der Öffnung der Kapitalmärkte einherging, führte nicht zur Hebung des Wohlstands, sondern zur Zerschlagung von Unternehmen. Das war an sich vollkommen logisch. Ein Oligarch, der dank seines politischen Einflusses zum Schleuderpreis erstandene Vermögenswerte für Milliardenbeträge verschachert, möchte seinen Profit verständlicherweise außer Landes schaffen. Geld in Russland zu belassen bedeutet, in ein Land zu investieren, das sich in einer schweren Depression befindet, und das Risiko nicht nur magerer Renditen, sondern auch der Beschlagnahme der Vermögenswerte durch die nächste Regierung einzugehen, die völlig zu Recht beanstanden könnte, der Privatisierungsprozess sei »unrechtmäßig« gewesen. Jeder, der so gewieft war, um als Gewinner aus der Privatisierungslotterie hervorzugehen, war auch so klug, sein Geld in den boomenden US-Aktienmarkt oder in den sicheren Hafen verschwiegener ausländischer Bankkonten zu stecken. Er musste sich nicht einmal besonders anstrengen; da verwundert es nicht, dass Milliarden aus dem Land flossen. Der IWF versprach weiterhin, die Trendwende stehe unmittelbar bevor. 1997 hatte er Grund zum Optimismus.
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Aber natürlich ist es leicht, zügig zu privatisieren, wenn man nicht darauf achtet, wie privatisiert wird: Man verscherbelt wertvolles Staatseigentum an seine Freunde. Tatsächlich kann es für Regierungen sehr einträglich sein, so vorzugehen - gleich ob die Rückflüsse in Form von Barzahlungen oder in Form von Wahlkampfspenden (oder beidem) eingehen. Aber die zarten Anzeichen der Erholung, die sich 1997 zeigten, sollten nicht von Dauer sein. 
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Das rückläufige Bruttoinlandsprodukt und die sinkenden Investitionen hinterließen auch in den Staatsfinanzen ihre Spuren: Der russische Staat hatte sich hoch verschuldet. Obgleich es der Regierung schwer fiel, mit den knappen Mitteln über die Runden zu kommen, hatte sie unter dem Druck der Vereinigten Staaten, der Weltbank und des IWF, die auf eine rasche Privatisierung drängten, staatliche Vermögenswerte zu Schleuderpreisen veräußert, und zwar bevor ein leistungsfähiges Steuersystem vorhanden war. Die Regierung schuf eine mächtige Klasse an Oligarchen und Geschäftsleuten, die nur einen Bruchteil ihrer Steuerschulden bezahlten, sehr viel weniger jedenfalls als das, was sie in praktisch jedem anderen Land bezahlt hätten. Daher war Russland zur Zeit der Ostasien-Krise in einer merkwürdigen Lage. Es besaß riesige Rohstoffvorkommen, aber der Staat war verarmt. Die Regierung verscherbelte praktisch das gesamte wertvolle Tafelsilber, und gleichzeitig war sie nicht in der Lage, die Renten und die Sozialhilfe zu bezahlen. Die Regierung nahm Kredite in .Milliardenhöhe beim IWF auf, wodurch sie sich immer höher verschuldete, während die Oligarchen, die von der Regierung so großzügig beschenkt worden waren, Milliarden aus dem Land abzogen. Der IWF hatte die Regierung ermuntert, den Kapitalmarkt zu öffnen und die freie Kapitalbewegung zu ermöglichen. Diese Politik sollte das Land für ausländische Investoren attraktiver machen; aber sie war praktisch eine Einbahnstraße, die die Kapitalflucht aus dem Land erleichterte. 
 

Die Krise von 1998

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Es war auch klar, dass der Rubel überbewertet war. Russland wurde von Importen förmlich überschwemmt, und die inländischen Erzeuger waren kaum konkurrenzfähig. Die Umstellung auf eine Marktwirtschaft mit deutlich geringeren Verteidigungs- ausgaben sollte eine Umschichtung von Ressourcen in die Produktion von Konsumgütern beziehungsweise von Maschinen zur Herstellung von Konsumgütern bewirken. Doch die Investitionen waren zum Erliegen gekommen, und es wurden keine Konsumgüter hergestellt. Die überbewertete Währung hatte - zusammen mit den anderen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die der IWF dem Land aufgezwungen hatte - die Wirtschaft abgewürgt, und obgleich die amtliche Arbeitslosenquote vergleichsweise niedrig blieb, gab es eine massive versteckte Arbeitslosigkeit. 
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Obgleich es den meisten Russen also deutlich schlechter ging, schreckten die Reformer und ihre Berater beim IWF vor einer Abwertung zurück, da sie glaubten, dies würde eine weitere Runde der Hyperinflation auslösen. Sie widersetzten sich nachdrücklich jeder Veränderung des Wechselkurses, und sie waren bereit, Milliarden von Dollar ins Land zu pumpen, um dies zu verhindern. 
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Als die New Yorker Investmentbanken Kredite an Russland vergaben, sprachen sie hinter vorgehaltener Hand darüber, dass das Stützungspaket des IWF diesmal besonders üppig ausfallen musste. Die Krise spitzte sich in der gleichen Weise zu wie so viele Krisen. Die Spekulanten wissen, wie hoch die noch vorhandenen Währungsreserven sind, und als die Reserven schwanden, wurde die Spekulation auf eine Abwertung immer mehr zu einer sicheren Wette. Sie riskierten praktisch nichts, als sie auf den Verfall des Rubels setzten. Wie erwartet, schnürte der IWF im Juli 1998 ein Beistandspaket von 11,2, Milliarden Dollar.
In den Wochen vor Ausbruch der Krise drängte der IWF auf wirtschaftspolitische Maßnahmen, die die Krise noch verschärfen sollten. So forderte der Fonds Russland auf, mehr Kredite in Fremdwährungen und weniger Kredite in Rubel aufzunehmen. Das Argument war einfach: Der Zinssatz für Verbindlichkeiten in Rubel war sehr viel höher als der Zinssatz für Verbindlichkeiten in Dollar. Durch Aufnahme von Krediten in Dollar konnte die Regierung Geld sparen. 
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Diese Fehleinschätzung setzte das Land einem enormen Risiko aus: Wenn der Rubel an Wert verlor, würde es Russland sehr viel schwerer fallen, seine auf Dollar lautenden Anleihen zurückzuzahlen. Doch der IWF steckte lieber den Kopf in den Sand. Indem er Russland zu einer größeren Kreditaufnahme im Ausland ermunterte, war er mitverantwortlich dafür, dass Russland die Tilgung seiner Schulden schließlich aussetzen musste. 
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Die Rettung

Als die Krise ausbrach, leitete der IWF die Rettungsbemühungen, aber er wollte, dass die Weltbank sechs Milliarden Dollar zu dem Beistandspaket beisteuerte. Das Rettungspaket belief sich insgsamt auf 22,6 Milliarden Dollar. Der IWF sollte davon, wie bereits erwähnt, 11,2, Milliarden Dollar tragen, die Weltbank sechs Milliarden Dollar, und den Rest würde die japanische Regierung bereitstellen. 
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Die Beweise für die grassierende Korruption in Russland waren eindeutig. In der Korruptionsstudie der Weltbank wurde die Region als eine der korruptesten weltweit bewertet. Der Westen wusste, dass ein Großteil dieser Milliarden veruntreut und den Familien und Geschäftsfreunden korrupter Beamter zugeschanzt würde. Obwohl Weltbank und IWF scheinbar entschieden gegen die Kreditvergabe an solche Regierungen waren, schienen sie zwei verschiedene Maßstäbe anzulegen. Kleinen Ländern ohne strategische Bedeutung wie Kenia wurden wegen Korruption Kredite verweigert, während Länder wie Russland, wo die Korruption ein viel größeres Ausmaß erreichte, beständig neue Kredite erhielten. Neben diesen moralischen Bedenken gab es auch schlicht volkswirtschaftliche Einwände. Die Hilfsgelder des IWF sollten den Wechselkurs stützen. Doch wenn die Währung eines Landes überbewertet ist und dadurch die Volkswirtschaft in Mitleidenschaft gezogen wird, ist es sinnlos, den Wechselkurs zu stützen. Wenn die Stützung des Wechselkurses funktionierte, würde dies die Wirtschaft belasten. Doch in dem wahrscheinlicheren Fall, dass die Stützung nicht funktionierte, wäre das Geld vergeudet, und das Land noch höher verschuldet. Unsere Berechnungen bei der Weltbank (vor der Kreditzusage), die sich auf die geschätzte Entwicklung der Staatseinnahmen und -ausgaben im Zeitablauf stützte, deuteten nachdrücklich darauf hin, dass der Kredit vom Juli 1998 nicht den gewünschten Erfolg bringen würde. Sofern die Zinssätze nicht durch ein Wunder drastisch sinken würden, steckte Russland schon im Herbst wieder in der Krise. 
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Trotz des energischen Widerstandes ihrer eigenen Mitarbeiter setzte die Clinton-Administration die Weltbank massiv unter Druck, Russland Kredite zu gewähren.
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Bemerkenswerterweise ignorierte der IWF einfach die Korruption und die damit verbundenen Risiken über die Mittelverwendung. Er glaubte tatsächlich, es sei sinnvoll, den Wechselkurs auf einem überbewerteten Niveau zu halten, und das Geld würde dies Russland für mehr als nur ein paar Monate ermöglichen. Er stellte dem Land einen Milliardenkredit zur Verfügung. 
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Drei Wochen nach der Gewährung des Kredits verkündete Russland eine einseitige Zahlungseinstellung und die Abwertung des Rubels. Der Rubel stürzte ab. Im Januar 1999 hatte er gegenüber seinem Stand vom Juli 1998 real 45 Prozent an Wert verloren. Die Ankündigung vom 17. August löste eine weltweite Finanzkrise aus. 
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Die Federal Reserve Bank von New York fädelte einen privaten bail-out für einen der größten US-Hedge-Fonds, Long Term Capital Management, ein, weil die Fed befürchtete, sein Konkurs könne eine globale Finanzkrise auslösen. Das Erstaunliche an dem Währungsabsturz war nicht der Zusammenbruch als solcher, sondern die Tatsache, dass er wirklich für einige der IWF-Bediensteten darunter einige der höchstrangigen überraschend kam. Sie hatten ernsthaft geglaubt, ihr Programm würde funktionieren. Unsere eigenen Prognosen erwiesen sich als nur teilweise richtig: Wir hatten geglaubt, das Geld würde den Wechselkurs für drei Monate stützen, tatsächlich reichte es nur für drei Wochen. Wir waren der Ansicht, die Oligarchen würden Tage oder gar Wochen brauchen, um das Geld außer Landes zu schaffen, tatsächlich brauchten sie nur Stunden oder höchstens Tage. Die russische Regierung "erlaubte" sogar die Aufwertung des Rubel. Die Oligarchen brauchten so weniger Rubel, um sich mit Dollar einzudecken. Ein lächelnder Viktor Geraschenko, der Präsident der russischen Zentralbank, der anschließend von dem Volkswirt Jeffrey Sachs als der schlechteste Zentralbankpräsident der Welt tituliert wurde, sagte dem Präsidenten der Weltbank und mir, es handele sich lediglich um das "Wirken von Marktkräften". Als der IWF mit den Tatsachen konfrontiert wurde die Milliarden von Dollar, die er Russland als Kredit gewährt hatte, tauchten nur wenige Tage später auf zypriotischen und schweizerischen Bankkonten auf -, behauptete er, es seien nicht seine Dollar. Dieses Argument zeugte entweder von einem bemerkenswerten Mangel an ökonomischem Sachverstand oder einem Ausmaß an Unaufrichtigkeit, das der Verlogenheit Geraschenkos kaum nachstand, oder auch beidem. 
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Natürlich profitierten nicht nur die Oligarchen von dem Hilfspaket. Die Investmentbanker an der Wall Street und die anderer westlicher Finanzinstitute, die sich besonders nachdrücklich für ein Hilfspaket eingesetzt hatten, wussten, dass seine Wirkung bald verpuffen würde: Sie nutzten die kurze Verschnaufpause, die ihnen das Beistandspaket verschaffte, um so viel wie möglich zu »retten« und außer Landes zu fliehen. Indem der IWF Russland Kredite für eine verlorene Sache gewährte, trieb er das Land noch tiefer in die Verschuldung, ohne dass dies irgendeinen positiven Effekt gehabt hätte. Die Zeche für diesen Fehler hatten weder die IWF-Bediensteten zu zahlen, die den Kredit vergaben, noch die USA, die darauf gedrängt hatten, noch die westlichen Banken und die Oligarchen, die von dem Kredit profitierten, sondern der russische Steuerzahler. 
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Laut den Daten der Weltbank belief sich das Russlands im Jahr 2000 auf 63,9 Prozent des Niveaus von 1989Am drastischsten ist der Einbruch in Moldawien, das es auf ganze 31,8 Prozent des Produktionsniveaus von 1990 bringt. Und das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine betrug im Jahr 2,000 nur 33,5 Prozent des BIP vor zehn Jahren. 
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Zunahme von Armut und Ungleichheit

Die Statistiken erzählen nicht die ganze Geschichte der Umwälzung in Russland. Sie übersehen einen der wichtigsten Erfolge: Wie bewertet man den Nutzen der neuen Demokratie, so unvollkommen diese auch sein mag? Aber sie lassen auch einen der größten Misserfolge außer Betracht: die wachsende Armut und Ungleichheit. Nicht nur die Größe des Kuchens der nationalen Volkswirtschaft schrumpfte, sondern er wurde auch immer ungleicher verteilt, so dass der durchschnittliche Russe ein immer kleineres Stück abbekam. Im Jahr 1989 lebten nur zwei Prozent der Russen in Armut. Bis Ende 1998 war diese Zahl auf 2,3,8 Prozent in die Höhe geschnellt, wobei zwei Dollar pro Tag die Armutsgrenze definierten. Über vierzig Prozent der Bevölkerung mussten laut einer Erhebung der Weltbank mit weniger als vier Dollar pro Tag auskommen. Die Statistik für Kinder enthüllte sogar ein noch gravierenderes Problem: Über fünfzig Prozent der Kinder leben in armen Familien. In anderen postkommunistischen Ländern kam es zu einer vergleichbaren, wenn nicht schlimmeren Zunahme der Armut.
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Russland findet sich heute in der schlechtesten aller Welten wieder ein gigantischer Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion und eine enorme Zunahme der Ungleichheit. Und die Aussichten für die Zukunft sind düster: Extreme Ungleichheiten hemmen das Wachstum, besonders wenn sie zu sozialer und politischer Instabilität führen. 

Wir haben bereitsgesehen, wie die wirtschaftspolitischen Leitlinien des "Washington Consensus" zu den Fehlschlägen beitrugen: Eine falsch umgesetzte Privatisierung hatte nicht zu Effizienz und Wachstumsschüben, sondern zu zerschlagenen Betrieben geführt.
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Inflation

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Der IWF forderte Russland auf, so schnell wie möglich zu privatisieren: Wie die Privatisierung umgesetzt wurde, galt als zweitrangig. Die negativen Auswirkungen die sinkenden Einkommen wie die wachsende Ungleichheit lassen sich direkt mit diesem Fehler in Verbindung bringen. In einer Studie der Weltbank zur zehnjährigen Geschichte der Transformationsländer zeigte sich, dass sich die Privatisierung nicht positiv auf das Wachstum auswirkte, wenn sie nicht von einer institutionellen Infrastruktur (wie corporate governance) flankiert wird.
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Die Privatisierung, so wie sie Russland (und vielen der ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion) auferlegt wurde, hat nicht nur der russischen Volkswirtschaft geschadet, sondern auch das Vertrauen in den Staat, die Demokratie und in die Reformen untergraben. Ich erwähnte bereits, dass die russische Regierung die wertvollsten Vermögenswerte des Landes, seine Bodenschätze, faktisch verschenkte, bevor sie ein System zur Erhebung von Steuern auf Bodenschätze eingeführt hatte. Das Ergebnis: ein reiches Land, das Milliarden von Dollar an ein paar Freunde und Vertraute von Jelzin verschenkte und nicht in der Lage ist, seinen Alten eine monatliche Rente in Höhe von i $ Dollar zu bezahlen. Das ungeheuerlichste Beispiel einer misslungenen Privatisierung war das Programm zur Vergabe von Krediten gegen Unternehmensanteile {loans-for-share). Im Jahr 1995 wandte sich die Regierung statt an die Zentralbank an die Privatbanken, um sich benötigte Finanzmittel zu beschaffen. Viele dieser Privatbanken gehörten Freunden von Regierungsmitgliedern, die Bankenkonzessionen erhalten hatten. In einem Umfeld, in dem die Banken keiner effizienten Aufsicht unterlagen, waren die Konzessionen praktisch eine Lizenz zum Gelddrucken, zur Vergabe von Krediten entweder an sich selbst. Freunde oder an die Regierung. Die Regierung bot dabei Beteiligungen an Staatsbetrieben als Kreditsicherheit an. Anschließend welche Überraschung! konnte die Regierung ihre Kredite nicht zurückzahlen, die Privatbanken übernahmen die Firmen in einer Art Scheinverkauf (obgleich die Regierung fadenscheinige »Auktionen« abhielt), und ein paar Leute wurden über Nacht Milliardäre. Diese Privatisierungen waren nicht politisch legitimiert. Und die Tatsache, dass sie nicht legitim waren, machte es für diese Leute noch dringlicher, ihr Kapital schnellstens außer Landes zu schaffen bevor eine neue Regierung möglicherweise auf die Idee kam, die Privatisierungen rückgängig zu machen oder ihre Position zu untergraben. 
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Das loans-for-share-Progiamm stellte die letzte Phase der Bereicherung der Oligarchen dar, jenes kleinen Kreises von Personen (darunter einige, denen Verbindungen zur Mafia nachgesagt werden), die schließlich nicht nur das wirtschaftliche, sondern auch das politische Leben des Landes beherrschten. Sie behaupteten sogar einmal, fünfzig Prozent des gesamten Vermögens des Landes zu besitzen! 
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Die Unternehmen, die Beresowskij der oft als der mächtigste der Oligarchen beschrieben wird kontrollierte, wurden alle bis zur Konkursreife heruntergewirtschaftet. Nachdem er die russische Fluggesellschaft Aeroflot übernommen hatte, bemühte er sich nicht etwa darum, ihre langfristige Rentabilität zu maximieren oder sie für den Weltmarkt fit zu machen, sondern ausschließlich darum, den Betrag zu maximieren, den er auf sein Konto und die Konten seiner Kumpane abzweigen konnte. 

Der soziale Kontext

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Die Art und Weise, wie der marktwirtschaftliche Systemwechsel in Russland umgesetzt wurde, unterhöhlte dieses Sozialkapital. Man brachte es nicht durch harte Arbeit oder Investitionen zu Vermögen, sondern, indem man politische Beziehungen spielen ließ, um sich bei Privatisierungen Staatseigentum zum Schnäppchenpreis unter den Nagel zu reißen. Der Gesellschaftsvertrag zwischen den Bürgern und ihrer Regierung wurde gebrochen, als Rentner mit ansehen mussten, wie die Regierung wertvolles Staatsvermögen verschleuderte, aber gleichzeitig behauptete, sie habe nicht das Geld, um deren Renten zu bezahlen. Die Konzentration des IWF auf makroökonomische Größen -insbesondere die Inflation- ließ ihn Belange wie Armut, Ungleichheit und Sozialkapital aus dem Blick verlieren.
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So gibt es beispielsweise wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Privatisierung in großem Stil, und es dauert, bis die Voraussetzungen erfüllt sind" Der konkrete Verlauf der Reformen in Russland beweist, dass Anreize wichtig sind, aber dass Russlands Form von »Ersatzkapitalismus« keine Anreize für Vermögensbildung und wirtschaftliches Wachstum lieferte, sondern Anreize für die Zerschlagung von Unternehmen. Die zügige Systemumstellung führte nicht zu einer reibungslos funktionierenden Marktwirtschaft, sondern zu einem anarchischen "Wilden Osten". 

Marktwirtschaftliche Reformen nach bolschewistischem Muster

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Die radikalen Reformer in Russland dagegen bemühten sich um eine revolutionäre Umwälzung der ökonomischen und gesellschaftlichen Ordnung. Leider scheiterten sie letztlich in beidem: Das Ergebnis war eine Marktwirtschaft, in der viele ehemalige Partei-Apparatschiks einfach mit erweiterten Vollmachten zur Leitung und Ausschlachtung von Betrieben ausgestattet wurden, die sie schon in der kommunistischen Ära geleitet hatten, und in der frühere KGB-Offiziere noch immer die Hebel der Macht in den Händen hielten. Es gab eine neue Dimension: Ein paar neue Herrscher übten enorme politische und wirtschaftliche Macht aus. 
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Den Superreichen geht es in der Regel hinter verschlossenen Türen besser, wo sie ungestört über spezielle Vergünstigungen und Vorrechte feilschen können. Zweifellos verdanken wir unser strenges Wettbewerbsrecht nicht den Rockefellers und Bill Gates dieser Welt! Und heute hören wir von den russischen Oligarchen, den neuen Monopolisten, keine Forderung nach einer strengen Wettbewerbspolitik. Diese Herrscher, die ihren Reichtum Mauscheleien mit dem Kreml verdanken, haben auch noch nicht die Einführung rechtsstaatlicher Prinzipien verlangt. Die Forderung nach freien Medien kam von Leuten, die die Kontrolle über die Medien erlangen wollten, um ihre Macht zu sichern, und sie erhoben diese Forderung immer nur dann, wenn die Regierung sich anschickte, ihre Macht zu beschneiden. 
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Dennoch haben hochrangige amerikanische und IWF-Bedienstete den Gefahren, die diese Konzentration von Medienmacht mit sich bringt, wenig Beachtung geschenkt; statt dessen konzentrierten sie sich auf die zügige Durchführung der Privatisierung. Und es freute sie ja, es erfüllte  sie mit Stolz -, dass die konzentrierte Macht der Privatmedien erfolgreich dazu eingesetzt wurde, ihre Freunde, Boris Jelzin und die so genannten »Reformer«, an der Macht zu halten. 
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Doch selbst im Westen wurden die wichtigsten Entscheidungen in der Russlandpolitik sowohl bei den internationalen Wirtschaftsinstitutionen als auch im US-Finanzministerium weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit getroffen. Weder die Steuerzahler im Westen, denen diese Institutionen doch eigentlich rechenschaftspflichtig waren, noch das russische Volk, das letztlich die Zeche zahlte, waren damals über die Vorgänge genauer im Bilde. Erst jetzt ringen wir mit der Frage: »Wer hat Russland zugrunde gerichtet? Und weshalb ?« 

UNFAIRE HANDELSGESETZE UND ANDERE MISSSTÄNDE

Der IWF ist eine politische Institution. Das Beistandspaket von 1998 war von dem Wunsch diktiert, Jelzin an der Macht zu halten, auch wenn es nach allen Prinzipien, an denen sich die Kreditvergabe hätte orientieren sollen, wenig sinnvoll war. Die stillschweigende Hinnahme, um nicht zu sagen offene Unterstützung für das korrupte loans-for-share-Privatisierungsprogramm, ging auch davon aus, dass die Korruption für etwas gut war - die Wiederwahl Jelzins zu sichern. Die IWF-Politik auf diesen Gebieten war untrennbar mit den politischen Positionen des US-Finanzministeriums verknüpft. Innerhalb der Clinton-Administration gab es in der Tat Bedenken gegen die Strategie des Finanzministeriums. Nach der Niederlage der Reformer im Dezember 1993 artikulierte Strobe Talbott, der spätere stellvertretende Außenminister, die weit verbreiteten Vorbehalte gegen die Strategie der Schocktherapie: dass der Schock zu heftig und der therapeutische Nutzen zu gering ausfallen könnte. Wir vom Sachverständigenrat waren eindeutig der Meinung, dass die USA Russland in die falsche Richtung schickten. Aber das US-Finanzministerium erklärte die russische Wirtschaftspolitik zu seiner Domäne, wandte sich gegen alle Versuche, einen offenen Dialog innerhalb oder außerhalb der Regierung zu führen, und hielt stur an seiner Empfehlung einer Schocktherapie und einer zügigen Privatisierung fest. Die Einstellung der Verantwortlichen beim US-Finanzminister war ebenso politisch wie ökonomisch motiviert. Sie waren besorgt über die drohende Gefahr eines Rückfalls in den Kommunismus. Die sanften Reformer dagegen waren beunruhigt, die Schocktherapie könne misslingen: Wachsende Armut und sinkende Einkommen würden die marktwirtschaftlichen Reformen untergraben. Auch hier sollten die Befürworter einer sanften Reform Recht behalten.
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Als die Probleme der Reformstrategie und die Schwächen der Regierung Jelzin mit der Zeit deutlicher wurden, reagierten die Verantwortlichen beim IWF und US-Finanzministerium ähnlich wie ehedem US-Regierungsvertreter, als sich die Niederlage im Vietnamkrieg immer deutlicher abzeichnete: Sie ignorierten die Tatsachen, sie leugneten die Wirklichkeit, sie unterdrückten jegliche Diskussion und sie vergeudeten immer mehr Geld für eine verlorene Sache.
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Als sich die Erfolgsaussichten immer mehr verdüsterten, als die Krise unabwendbar zu sein schien, änderte sich die Rhetorik: Statt des Vertrauens in Jelzin wurde jetzt die Gefahr einer unwägbaren Alternative in den Vordergrund gestellt.
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Die Angst war förmlich mit Händen zu greifen. Eines Tages bekam ich einen Anruf von einem hochrangigen Berater der russischen Regierung. Er wollte eine Expertenrunde organisieren, die Strategien formulieren sollte, wie die russische Wirtschaft nachhaltig angekurbelt werden könnte. Das beste Rezept, das der IWF während seiner jahrelangen Beratungstätigkeit offerieren konnte, war Stabilisierung; bei Wachstumsstrategien dagegen stand er mit leeren Händen da. Und es war klar, dass Stabilisierung - zumindest so, wie sie der IWF verstand - das Wachstum nicht fördern würde. Als der IWF und das US-Finanzministerium Wind von der beabsichtigten Expertenrunde bekamen, wurden sie sofort aktiv. Finanzminister Rubin rief den Präsidenten der Weltbank an, und ich wurde angewiesen, nicht an der Runde teilzunehmen. Doch obgleich das US-Finanzministerium die Weltbank oft als seinen Erfüllungsgehilfen betrachtet, können andere Länder, wenn sie sich eng miteinander abstimmen, selbst den US-Finanzminister austricksen. Und so geschah es hier: Nach den entsprechenden Anrufen und Briefen aus Russland reiste ich dorthin. Als sich die Fehlschläge immer deutlicher abzeichneten und als immer klarer wurde, dass die USA aufs falsche Pferd gesetzt hatten, versuchten die US-Vertreter noch energischer, jegliche Kritik und öffentliche Diskussion zu verhindern. Das US-Finanzministerium wollte Gespräche zwischen Mitarbeitern der Weltbank und Journalisten unterbinden, um sicherzustellen, dass allein seine Sicht der Dinge Gehör fände. Dabei hielt das Finanzministerium mit bemerkenswerter Beharrlichkeit an seiner Strategie fest, ob- wohl ihm immer mehr handfeste Belege für Korruption vorlagen. Die Korruption war kein Geheimnis gewesen: Es wurde offen darüber gesprochen, ob Jelzins Ministerpräsident, Viktor Tschernomyrdin, während seiner Zeit als Chef von Gasprom, dem staatlichen Gasmonopolisten, eine oder fünf Milliarden Dollar für sich abgezweigt hatte. Auch das Finanzministerium muss von dieser Korruption gewusst haben. Für viele war das erwähnte loans-for-share-Privatisieiungsprogramm - das dazu führte, dass ein paar Oligarchen die Kontrolle über einen Großteil der gewaltigen Rohstoffvorkommen des Landes erlangten - der kritische Punkt, an dem die Vereinigten Staaten deutlich ihre Meinung hätten sagen sollen. In Russland entstand nicht zu Unrecht der Eindruck, die US-Regierung habe sich mit der Korruption verbündet. Als öffentliche Geste der Unterstützung lud der stellvertretende Finanzminister Lawrence Summers den in seiner Heimat verständlicherweise äußerst unpopulären Anatoli Tschubais, der in der russischen Regierung für die Privatisierung zuständig war und den loans-for-share-Betrug eingefädelt hatte, in sein Privathaus ein. Das US-Finanzministerium und der IWF betraten die politische Bühne in Russland. Indem sich die Vereinigten Staaten, der IWF und die internationale Staatengemeinschaft so entschieden mit denjenigen solidarisierten, die am Ruder waren, während gleichzeitig durch die korrupte Privatisierungspraxis eine Ungleichheit gewaltigen Ausmaßes geschaffen wurde, haben sie sich unwiderruflich mit einer Politik verbündet, die bestenfalls die Interessen der Vermögenden auf Kosten des Durchschnittsrussen förderte. 

Als die amerikanischen und europäischen Zeitungen die Korruption schließlich öffentlich bekannt machten, hörte sich die Verurteilung durch das US-Finanzministerium halbherzig und fadenscheinig an. In Wirklichkeit hatte der Leiter der Revisions- stelle der Duma diese Beschuldigungen schon lange, bevor sie in die Schlagzeilen gerieten, in Washington vorgebracht. In der Weltbank wurde mir eindringlich nahe gelegt, mich nicht mit ihm zu treffen, da wir sonst den Eindruck erwecken würden, seinen Anschuldigungen Glauben zu schenken. Wenn das Ausmaß der Korruption unbekannt war, so deshalb, weil sich alle die Augen und Ohren zuhielten.
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Wirtschaftliche Sonderinteressen in den USA beeinflussen die Politik in einer Weise, die den allgemeinen nationalen Interessen zuwiderläuft und das Land in den Ruch der Heuchelei bringt. Die Vereinigten Staaten unterstützen den Freihandel, doch wenn ein armes Land ein einheimisches Produkt in die USA exportieren möchte, gewinnen protektionistische Interessen allzu oft die Oberhand. Diese inländischen Arbeitsmarkt- und Geschäftsinteressen benutzen die zahlreichen Handelsgesetze, die offiziell unter der Bezeichnung »Gesetze gegen unlautere Handelspraktiken« firmieren, aber im Ausland oft als »Gesetze über unlautere Han- delsbeschränkungen« bezeichnet werden, um unüberwindbare Importschranken zu errichten. 

Unmittelbar nachdem der Preis für Aluminium Anfang 1994 stark gefallen war, ereignete sich der gravierendste Fall der Einmischung von US-Sonderinteressen in Handelsfragen, den ich als Mitglied der US-Regierung miterlebte. Die amerikanischen Aluminiumproduzenten reagierten auf den Preisverfall mit dem Vorwurf, Russland verkaufe Aluminium zu Dumpingpreisen. Jede ökonomische Analyse der Situation belegte zweifelsfrei, dass Russland kein Dumping betrieb.
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Ich wusste, dass die amerikanische Industrie die Regierung schon bald um Hilfe bitten würde, entweder in Form neuer Subventionen oder neuer protektionistischer Maßnahmen gegen die ausländische Konkurrenz. Doch selbst ich staunte nicht schlecht über den Vorschlag des damaligen Chefs von Alcoa, ein weltweites Aluminiumkartell zu gründen. Er drohte, sich auf US-amerikanische Antidumping-Gesetze zu berufen, um russisches Aluminium so lange vom amerikanischen Markt zu verbannen, bis das Kartell gegründet war. 
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Bei einer turbulent verlaufenden Sitzung hochrangiger US-Ministerialer wurde grünes Licht gegeben für die Gründung eines internationalen Kartells.
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Reformer innerhalb der russischen Regierung lehnten die Gründung des Kartells entschieden ab und hatten mir ihre Haltung persönlich mitgeteilt. Sie wussten, dass die mengenmäßigen Beschränkungen, die das Kartell verhängen würde, den Ministerien, die unter dem alten Regime eine Schlüsselfunktion innehatten, wieder mehr Macht geben würden. 
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Obgleich es mir gelungen war, fast alle von den Gefahren der Kartelllösung zu überzeugen, gaben zwei Stimmen den Ausschlag. Das US-Außenministerium mit seinen engen Beziehungen zu den altkommunistischen Kaderministerien unterstützte die Gründung eines Kartells. Dem State Department geht Ordnung über alles, und Kartelle schaffen Ordnung. Die dem alten Regime verhafteten Ministerien hatten natürlich von Anfang an nichts von dieser marktwirtschaftlichen Umstellung gehalten, und die Erfahrung mit dem Aluminium bestätigte ihre Auffassung. Rubin, der damals den Nationalen Wirtschaftsrat leitete, spielte eine entscheidende Rolle und stellte sich auf die Seite des State Department. Der "Aluminiumfall" bewies, dass die US-Regierung bei einem Konflikt zwischen Grundsätzen und lautstarken Sonderinteressen letzteren den Vorzug gab. 

Das Aluminiumkartell war weder der erste noch der letzte Fall, bei dem sich Sonderinteressen gegen das nationale und globale Ziel einer erfolgreichen Transformation durchsetzten. In der Zeit des Wechsels von der Bush- zur Clinton-Administration schlössen Russland und die Vereinigten Staaten ein historisches Abrüstungsabkommen. Ein US-Staatsunternehmen, die United States Enrichment Corporation (USEC), sollte russisches Uran aus ausgemusterten Atomsprengköpfen aufkaufen und in die Vereinigten Staaten transportieren. Das Uran sollte abgereichert werden, damit es nicht länger kernwaffentauglich war, und anschließend in Kernkraftwerken verwendet werden. Der Verkauf sollte Russland dringend benötigte Gelder verschaffen, um sein Kernmaterial besser zu kontrollieren. So unglaublich es erscheinen mag, beriefen sich gewisse Kreise ein weiteres Mal auf das Gesetz gegen unlautere Handelspraktiken. Die amerikanischen Uranproduzenten behaupteten. Russland verkaufe Uran zu Dumpingpreisen auf den US-Märkten. 
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Als der Import von Uran zu Abrüstungszwecken durch die US-Regierung von amerikanischen Uranproduzenten auf der Grundlage des Gesetzes gegen unlautere Handelspraktiken angefochten wurde, zeigte sich, dass dieses Gesetz geändert werden musste. Das Wirtschaftsministerium und der US-Handelsbeauftragte wurden - durch Überzeugungsarbeit auf höchster Ebene - schließlich dazu gebracht, Änderungsanträge zu diesem Gesetz im Kongress einzubringen. Der Kongress lehnte die Änderungsanträge jedoch ab. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob das Wirtschaftsministerium und der Handelsbeauftragte die Bemühungen um eine Gesetzesänderung dadurch sabotierten, dass sie den Antrag dem Kongress in einer Weise zuleiteten, der die Abstimmungsniederlage unvermeidlich machte, oder ob sie gegen einen Kongress kämpften, der von jeher eine entschieden protektionistische Haltung eingenommen hat. Ebenso verblüffend war das, was als Nächstes geschah. Zum großen Missvergnügen der Reagan- und Bush-Administrationen lagen die USA im Privatisierungswettstreit der achtziger Jahre weit zurück. 
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Schließlich verfielen die Befürworter der Privatisierung in den USA ausgerechnet auf ein Unternehmen, das kaum ein anderes Land hätte privatisieren wollen: die USEC, die Uran für Kernreaktoren, aber auch für Atombomben anreichert. 
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Noch gravierender war freilich, dass der Wirtschaftssachverständigenrat in einem Gutachten die Anreize einer privatisierten USEC analysiert und überzeugend dargelegt hatte, dass das Unternehmen größtes Interesse daran hätte, das russische Uran nicht in die USA zu bringen.
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Die USEC versicherte nachdrücklich, dass sie niemals übergeordneten US-Interessen zuwiderhandeln werde und dass sie das russische Uran so schnell in die USA schaffen werde, wie es die Russen verkauften. Doch in derselben Woche, in der die Unternehmensleitung dies feierlich beteuerte, erlangte ich Kenntnis von einem Geheimabkommen zwischen der USEC und der zuständigen russischen Behörde. Russland hatte angeboten, seine Lieferungen zu verdreifachen, und die USEC hatte das nicht nur abgelehnt, sondern auch ein hübsches Sümmchen »Schweigegeld« bezahlt, um das Angebot (und die Ablehnung durch die USEC) geheim zu halten.
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Unsere Prognose, die Privatisierung werde negative Auswirkungen auf den Import von angereichertem Uran aus Russland haben, erwies sich leider als völlig zutreffend. Tatsächlich schien es zu einem Zeitpunkt so, als kämen sämtliche Exporte in die USA zum Erliegen. Zu guter Letzt verlangte die USEC gigantische Subventionen, um den Import fortzusetzen. Das rosige wirtschaftliche Bild, das die USEC (und das US-Finanzministerium) gezeichnet hatten, erwies sich als falsch, und Investoren waren verärgert, als der Aktienkurs einbrach.

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DIE ANDERE AGENDA DES IWF

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Es ist vielleicht nicht verwunderlich, dass mangelnde Kohärenz zu einer Vielzahl von Problemen führte. Die Frage aber ist, wie es zu dieser mangelnden Kohärenz kam. Und weshalb wiederholt sich die Inkohärenz bei jeder neuen Krise, obwohl die Probleme aufgezeigt wurden? Dies lässt sich teilweise damit erklären, dass der IWF mit verzwickten Problemen konfrontiert ist, die Welt ist komplex, und die Volkswirte des Fonds sind Praktiker, die sich darum bemühen, schwierige Entscheidungen möglichst schnell zu treffen, statt wie Wissenschaftler in kontemplativer Beschaulichkeit nach begrifflicher Kohärenz und Konsistenz zu streben. Aber ich glaube, es gibt noch einen fundamentaleren Grund: Der IWF verfolgt nicht nur die Ziele, die in seinem ursprünglichen Mandat festgelegt sind, nämlich die Förderung globaler Stabilität und die Versorgung von Mitgliedsländern, die von einer Rezession bedroht sind, mit den nötigen Mitteln zur Finanzierung einer Wachstamspolitik. Er ist auch Sachwalter der Interessen der Finanzwelt. Dies bedeutet, dass der IWF Ziele verfolgt, die sich oft gegenseitig widersprechen. 

Das Spannungsverhältnis ist umso größer, als dieser Konflikt nicht offen gelegt werden darf: Wenn die neue Rolle des IWF öfentlich zugegeben würde, würde die Unterstützung für diese Institution möglicherweise schwinden, und diejenigen, denen es gelungen ist, das Mandat zu ändern, war dies zweifellos bewusst. Daher musste das neue Mandat so bemäntelt werden, dass es wenigstens oberflächlich mit dem alten Mandat in Einklang zu stehen schien. Eine grob vereinfachende Marktideologie lieferte den Mantel, hinter dem das eigentliche Geschäft des »neuen« Mandats betrieben werden konnte. Auch wenn die Änderung des Mandats und der Ziele des IWF im Stillen erfolgte, so war sie doch keine Kleinigkeit: Statt den Interessen der Weltwirtschaft sollte er fortan den Interessen der internationalen Finanzwelt dienen. Und obgleich die Liberalisierung der Kapitalmärkte nicht die Stabilisierung der Weltwirtschaft fördert, so erschließt sie der Wall Street doch riesige neue Märkte. 

Betrachtet man die Politik des IWF von dieser Warte, dann wirdverständlicher, wieso er der Erfüllung der Forderungen ausländischer Gläubiger größeres Gewicht beimisst als der Erhaltung der Solvenz möglichst vieler inländischer Unternehmen. Der IWF mag nicht zum Inkassobüro der G-7-Staaten geworden sein, aber er hat alles darangesetzt (wenn auch nicht immer erfolgreich), dass die Forderungen der Gläubiger aus den G-7-Ländern erfüllt wurden. 
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Der IWF befürchtete, dass Insolvenzen dadurch, dass sie gegen den heiligen Grundsatz »pacta sunt servanda« verstießen, den Kapitalismus untergraben würden. Doch hier irrte er sich gleich in mehrfacher Hinsicht. Der Konkurs ist ein ungeschriebener Bestandteil jedes Kreditvertrags; das Gesetz bestimmt, was geschieht, wenn der Schuldner den Gläubiger nicht befriedigen kann. Der Konkurs verstößt nicht gegen die Unverletzlichkeit des Kreditvertrags. Doch es gibt noch einen weiteren, ebenso wichtigen, ungeschriebenen Vertrag, nämlich den zwischen den Bürgern und dem Staat, auch Gesellschaftsvertrag genannt. Dieser Vertrag verlangt eine soziale und ökonomische Grundsicherung einschließlich der Gewährleistung hinreichender Beschäftigungsmöglichkeiten. Während der IWF in seinem verfehlten Selbstverständnis die Unverletzlichkeit des Kreditvertrags unbedingt gewährleisten möchte, nimmt er die Aushöhlung des noch wichtigeren Gesellschaftsvertrags bereitwillig in Kauf. Letztlich ist es die Politik des IWF - einschließlich der mit öffentlichen Geldern finanzierten bail-outs -, die den Markt und die langfristige Stabilität der Wirtschaft und Gesellschaft untergräbt. 

Es ist daher verständlich, dass der IWF und die Strategien, die er Ländern in der ganzen Welt aufzwingt, auf so heftige Ablehnung stoßen. Die Milliarden von Dollar, die er bereitstellt, dienen dazu, den Wechselkurs für kurze Zeit auf einem langfristig nicht haltbaren Niveau abzustützen; unterdessen können die Ausländer und die Reichen ihr Geld (durch die offenen Kapitalmärkte, die der IWF den Ländern aufoktroyiert hat) zu günstigeren Bedingungen außer Landes schaffen. Für jeden Rubel, für jede Rupie und für jeden Cruzeiro erhalten die Inländer mehr Dollar, solange der Kurs gestützt wird. Mit diesen Milliarden werden vielfach die Forderungen ausländischer Gläubiger erfüllt, auch wenn es sich um private Schulden handelt. Private Verbindlichkeiten werden so faktisch in öffentliche Verbindlichkeiten überführt. 
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Wenn man den IWF als eine Institution betrachtet, die eine Politik im Interesse der privaten Gläubiger betreibt, werden auch andere IWF-Strategien plötzlich verständlicher. Wir erwähnten bereits die große Beachtung, die der IWF dem Handelsbilanzdefizit schenkt und wie die den ostasiatischen Ländern verordnete rigorose Sparpolitik zu einer raschen Verringerung der Importe und einer massiven Auffüllung der Währungsreserven führte. 
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Aus der Sicht der Gläubiger funktionierte die Politik bemerkenswert schnell: In Korea stiegen die Währungsreserven von praktisch null auf 97 Milliarden Dollar im Juli 2,001, in Thailand von einem negativen Ausgangsstand auf 31 Milliarden Dollar im Juli 2001. Für die Gläubiger war dies natürlich eine frohe Botschaft: Sie konnten jetzt sicher sein, dass Korea die Dollar hatte, um Kredite zurückzuzahlen, falls die Gläubiger dies verlangen sollten. 
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Die Tatsache, dass der IWF die Interessen der Finanzwelt berücksichtigt, erklärt auch einen Teil seiner defensiven Rhetorik. In der Ostasien-Krise machten der IWF und das US-Finanzministerium schon bald die Schuldnerländer, insbesondere ihre mangelnde Transparenz für die Probleme, verantwortlich. 
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Es gab viele Länder, die weit weniger transparent waren als Korea, Malaysia und Indonesien und die keine Krise erlebten. Wäre Transparenz der Schlüssel zu ökonomischer Stabilität, dann hätten die ostasiatischen Länder in der Vergangenheit mehr Krisen haben müssen, da die Daten zeigten, dass sie transparenter wur- den. Ungeachtet der angeblichen Defizite hinsichtlich Transparenz hatte sich Ostasien nicht nur durch ein bemerkenswertes Wachstum, sondern auch durch eine bemerkenswerte Robustheit ausgezeichnet. Wenn die Länder Ostasiens »extrem krisenanfällig « waren, wie der IWF und das US-Finanzministerium behaupteten, dann war es eine neu erworbene Anfälligkeit, die nicht auf erhöhter Intransparenz, sondern auf einem anderen vertrauten Faktor beruhte: der übereilten Liberalisierung der Kapital- und Finanzmärkte, die der IWF diesen Ländern aufgezwungen hatte. Im Rückblick gab es einen "transparenten" Grund, auf Transparenz zu pochen: So konnten die Finanzwelt, der IWF und das US-Finanzministerium die Verantwortung von sich abwälzen, um die Vertrauenskrise, in die sie geraten waren, unbeschadet zu überstehen. Schuld waren die wirtschaftspolitischen Maßnahmen, auf die der Fonds und das US-Finanzministerium in Ostasien, Russland und andernorts gedrängt hatten: Die Kapitalmarktliberalisierung hatte zu einer destabilisierenden Spekulation geführt und die Finanzmarktliberalisierung zu einer schlechten Kreditvergabepraxis. Als die Beistandsprogramme nicht die verheißenen Erfolge zeitigten, besaß der IWF einen noch stärkeren Anreiz, die Verantwortung von sich zu schieben und zu behaupten, das eigentliche Problem liege bei den Krisenländern.
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Auch den internationalen Banken kam es sehr zupass, die Verantwortung abwälzen zu können. Sie wollten den Kreditnehmern und den zweifelhaften Kreditvergabepraktiken der thailändischen und südkoreanischen Banken, die mit dem stillschweigenden Einverständnis der korrupten Regierungen ihrer Länder notleidende Kredite anhäuften, den Schwarzen Peter zuschieben - und wieder schlössen sich IWF und US-Finanzministerium ihrem Angriff an. Von Anfang an hätte man den Argumenten von IWF und US-Finanzministerium skeptisch gegenüberstehen sollen. Trotz ihrer Bemühungen, den großen internationalen Kreditgebern aus der Klemme zu helfen, ist es doch eine unumstößliche Tatsache, dass es bei jedem Kredit einen Kreditnehmer und einen Kreditgeber gibt. Wenn von vornherein feststeht, dass der Kredit mit hoher Wahrscheinlichkeit notleidend wird, trifft die Schuld ebenso den Kreditgeber wie den Kreditnehmer. Außerdem haben Banken in den westlichen Industrieländern Kredite an große koreanische  Firmen vergeben, obwohl sie ganz genau wussten, dass viele
von ihnen hoch verschuldet waren. Die notleidenden Kredite waren das Ergebnis von Fehlurteilen, nicht von Pressionen seitens der US-Regierung oder anderer westlicher Regierungen, und sie kamen trotz der vermeintlich guten Risikomanagement-Instrumente der westlichen Banken zu Stande. Kein Wunder, dass diese Großbanken sich selbst aus der Schusslinie bringen wollten. Der IWF hatte allen Grund, sie zu unterstützen, denn den IWF traf eine Mitschuld. Wiederholte bail-outs des IWF hatten dazu beigetragen, dass Kreditgeber nicht die verkehrsübliche Sorgfalt walten ließen. 

Es stand noch etwas anderes auf dem Spiel: Anfang der neunziger Jahre hatte das US-Finanzministerium den globalen Triumph des Kapitalismus verkündet. Zusammen mit dem IWF hatte es den Ländern, die die »richtige Wirtschaftspolitik« - entsprechend den Leitlinien des »Washington Consensus« - betrieben, sicheres Wirtschaftswachstum verheißen. Die Ostasienkrise ließ Zweifel an dieser neuen Weltsicht aufkommen - es sei denn, man zeigte, dass nicht der Kapitalismus das Problem war, sondern die asiatischen Länder und ihre schlechte Politik. Der IWF und das US-Finanzministerium mussten behaupten, das Problem seien nicht die Reformen - zuvörderst die Liberalisierung der Kapitalmärkte, dieser heiligste Glaubensartikel -, sondern die Tatsache, dass die Reformen nicht weit genug vorangetrieben worden seien. Indem sie die Aufmerksamkeit auf die Schwächen der Krisenländer richteten, lenkten sie nicht nur von ihren eigenen Fehlern ab - den Fehlern ihrer Politik und Kreditvergabe -, sondern sie versuchten auch, die Ereignisse zu nutzen, um ihre eigene Agenda weiter voranzubringen. 

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!! Obwohl noch ein paar wirklich interessante Aussagen folgen, ist meiner Meinung nach das Wichtigste gesagt. Daher folgt der Rest nur noch in einer etwas "losen Aneinanderreihung" !!
 

WAS ZU TUN BLEIBT

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Die Globalisierung in ihrer heutigen Form ist keine Erfolgsgeschichte. Sie hat das Schicksal der meisten Armen in der Welt nicht gelindert. Sie ist ökologisch bedenklich. Sie hat die Weltwirtschaft nicht stabilisiert. Und bei der marktwirtschaftlichen Transformation der Zentralverwaltungswirtschaften wurden so viele Fehler gemacht, dass, mit Ausnahme von China, Vietnam und einigen osteuropäischen Ländern, die Armut sprunghaft anstieg und die Einkommen stark zurückgingen. Manche sehen einen einfachen Ausweg: Sie wollen die Globalisierung begraben. Doch das ist weder machbar noch wünschenswert. Denn die Globalisierung hat auch sehr segensreiche Wirkungen entfaltet: Der Erfolg Ostasiens basiert auf der Globalisierung, insbesondere dem Abbau von Handelsschranken und dem verbesserten Zugang zu Märkten und Technologie. Die Globalisierung hat vielfach die gesundheitliche Versorgung verbessert und eine aktive globale Zivilgesellschaft hervorgebracht, die für mehr Demokratie und größere soziale Gerechtigkeit kämpft. Nicht die Globalisierung ist das Problem, sondern die Art und Weise, wie sie umgesetzt wurde. Und ein Teil des Problems liegt bei den internationalen Wirtschaftsinstitutionen, dem IWF, der Weltbank und der WTO, die die "Spielregeln" der Globalisierung festlegen. Sie haben dies in einer Weise getan, die allzu oft mehr den Interessen der Industriestaaten - genauer: bestimmten Partikularinteressen in diesen Ländern - als denen der Dritten Welt diente. 
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Interessen und Ideologie

Während die Strategien des Internationalen Währungsfonds von Finanzinteressen dominiert werden, geben bei der Welthandelsorganisation Handelsinteressen den Ausschlag. So wie der IWF den sozialen Belangen der Armen kaum Beachtung schenkt - für die Erfüllung der Forderungen von Privatbanken werden Milliarden von Dollar bereitgestellt, aber die lächerlichen Summen zur Subventionierung von Nahrungsmitteln für diejenigen, die infolge der IWF-Programme arbeitslos werden, lassen sich nicht auftreiben -, stellt die WTO den freien Handel über alles. Wer den Einsatz von Netzen zum Garnelenfang verbieten lassen will, weil als Beifang auch Meeresschildkröten ins Netz gehen und in ihrem Bestand gefährdet werden, muss sich von der WTO sagen lassen, ein solches Verbot stelle einen ungerechtfertigten Eingriff in den freien Handel dar. Er muss feststellen, dass Handelsinteressen vor allen anderen Belangen einschließlich Umweltschutz rangieren! 
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Ausschlaggebend sind nicht die Institutionen an sich, sondern die Einstellungen, die ihnen zugrunde liegen: Der Schutz der Umwelt, der Wille, den Armen ein Mitspracherecht bei Entscheidungen einzuräumen, die sie betreffen, die Förderung von Demokratie und fairem Handel sind notwendig, wenn die Verheißungen der Globalisierung eingelöst werden sollen. Das Problem besteht darin, dass die Institutionen mittlerweile die Einstellungen derer übernommen haben, denen sie rechenschaftspflichtig sind. Dem typischen Zentralbankpräsidenten bereitet die Inflationsstatistik Kopfzerbrechen, nicht die Armutsstatistik, und der Wirtschaftsminister interessiert sich vor allem für die Exportzahlen, nicht für Umweltschutzindizes. 
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Die veränderte Einstellung zur Globalisierung muss eine Neubewertung der Rolle von Staat und Markt beinhalten, die die ökonomischen Belange in einen umfassenderen sozialen und politischen Kontext stellt. Nicht genug damit, dass ökonomische Belange allem anderen übergeordnet werden, auch eine bestimmte Konzeption der Wirtschaft - die Ideologie der reinen Marktwirtschaft - wird allen anderen Konzeptionen übergeordnet. Der Widerstand gegen die Globalisierung in vielen Teilen der Welt gilt nicht der Globalisierung als solcher - den neuen Möglichkeiten, Wachstum zu finanzieren, oder dem Zugang zu neuen Exportmärkten -, sondern einer bestimmten Doktrin, den wirtschaftspolitischen Leitlinien des »Washington Consensus«, die die internationalen Finanzinstitutionen propagieren. Und der Widerstand richtet sich nicht nur gegen diese Leitlinien als solche, sondern gegen die Vorstellung, es gebe nur das eine, allein selig machende Konzept. Dies widerspricht nicht nur der Wirtschaftstheorie, die die Bedeutung von Tradeoffs - also Konflikten zwischen wider- streitenden Zielen - betont, sondern auch dem gesunden Menschenverstand. In unseren eigenen Demokratien führen wir leb- hafte Debatten über Dinge wie die geeignete Ausgestaltung von Konkursgesetzen oder die Privatisierung der Sozialversicherung. Die meisten anderen Länder der Welt haben das Gefühl, keine eigenen Entscheidungen treffen zu können, ja sogar zu Entscheidungen gezwungen zu sein, die Länder wie die Vereinigten Staaten für sich selbst abgelehnt haben.
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Governance

Bislang haben wir die Fehlschläge der Globalisierung auf die Tatsache zurückgeführt, dass sich die internationalen Wirtschaftsinstitutionen bei den festgelegten Spielregeln offenbar von Handels- und Finanzinteressen leiten ließen. Eine ganz bestimmte Sicht- weise der Rolle von Staat und Markt setzte sich durch - eine Sichtweise, die innerhalb der Industrieländer nicht einhellig geteilt wird, die jedoch den Entwicklungs- und Transformationsländern aufgezwungen wird. Die Frage ist, wie es dazu kam. Und die Antwort ist nicht schwer zu finden: Es sind die Finanzminister und Zentralbankpräsidenten, die die Grundsatzentscheidungen beim IWF treffen, und das Gleiche gilt für die Wirtschaftsminister bei der WTO. 
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Um die Globalisierung so zu gestalten, dass ihre Früchte gleichmäßiger verteilt werden, bedarf es vor allem einer grundlegenden Revision des governance-Systems - also der Leitungs- und Aufsichtsstrukturen (der internationalen Wirtschaftsinstitutionen). Hierzu müssen beim IWF und bei der Weltbank die Stimm- rechte neu verteilt werden und bei allen internationalen Wirtschaftsinstitutionen Veränderungen sicherstellen, dass bei der WTO nicht nur die Stimmen der Wirtschaftsminister und bei IWF und Weltbank nicht nur die Stimmen der Finanzminister Gehör finden. Diese Veränderungen werden sich nicht leicht durchsetzen lassen. Die Vereinigten Staaten werden ihr faktisches Veto beim IWF nickt aufgeben. Und die Industriestaaten werden nicht auf Stimmrechte verzichten, um den Entwicklungsländern mehr Stimmrechte einzuräumen. Sie werden sogar fadenscheinige Argumente vorbringen: Die Stimmrechte werden wie bei Aktiengesellschaften auf der Basis der Kapitaleinlagen zugeteilt. China ist schon seit langem bereit, seine Kapitaleinlage zu erhöhen, um so mehr Stimmrechte zu erhalten. US-Finanzminister O'Neill versucht den Eindruck zu erwecken, es seien die amerikanischen Steuerzahler, die Klempner und Zimmerer, die die milliardenschweren Stützungspakete bezahlten - und weil sie die Kosten trügen, sollten sie auch die entsprechenden Stimmrechte besitzen; aber das stimmt nicht. Das Geld kommt letztlich von den Arbeitern und anderen Steuerzahlern in den Entwicklungsländern, denn die Kredite des IWF werden fast immer zurückgezahlt. 
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Transparenz

Abgesehen von einer grundlegenden Revision ihres governance-Systems ist mehr Offenheit und Transparenz die wichtigste Gewähr dafür, dass die internationalen Wirtschaftsinstitutionen die Anliegen der Armen, die Umwelt und allgemeine politische und soziale Belange stärker berücksichtigen. Für uns spielt eine informierte und freie Presse eine wichtige Rolle bei der Kontrolle unserer demokratisch gewählten Regierungen: Jeder Missstand, jede noch so kleine Indiskretion, jede Günstlingswirtschaft wird kritisch unter die Lupe genommen, und die öffentliche Meinung kann einen mächtigen Druck ausüben. Transparenz ist in öffentlichen Institutionen wie dem IWF, der Weltbank und der WTO sogar noch wichtiger, weil ihre Führungsspitze nicht direkt ge- wählt wird. Obgleich es öffentliche Einrichtungen sind, besteht keine direkte Rechenschaftspflicht gegenüber der Öffentlichkeit. Das Problem der mangelnden Transparenz betrifft in unterschiedlicher Weise alle internationalen Institutionen. Die Welthandelsorganisation verhandelt über Abkommen hinter verschlossenen Türen, so dass für die Öffentlichkeit kaum ersichtlich ist, welchen Einfluss Unternehmens- und andere Sonderinteressen nehmen. Die Beratungen dieser Gremien, die darüber entscheiden, ob ein Verstoß gegen ein WTO-Abkommen vorliegt, werden ebenfalls unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. 
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Als Mitglied des Sachverständigenrats von Präsident Clinton hatte ich die Macht der Verschwiegenheit selbst erlebt und verstanden. Verschwiegenheit ermöglicht Regierungsvertretern jene Art von Diskretion, die sie nicht hätten, wenn ihre Handlungen öffentlich diskutiert würden. Verschwiegenheit erleichtert nicht nur das Leben, sondern es erlaubt auch Sonderinteressen, ihren ganzen Einfluss ungestört geltend zu machen. Verschwiegenheit dient auch dazu, Fehler zu verbergen, gleich ob sie harmlos sind oder nicht und gleich ob sie das Ergebnis einer mangelnden gedanklichen Analyse sind oder nicht. Wie heißt es doch so treffend: "Sonnenschein ist das beste Antiseptikum.« Diese Verschwiegenheit und der Argwohn, den sie schürt, leisteten der Protestbewegung Vorschub. Die Demonstranten forderten mehr Offenheit und Transparenz. Diese Forderungen stießen auf besondere Resonanz, denn der IWF selbst hatte während der Ostasienkrise die Bedeutung von Transparenz betont. Die rhetorische Betonung von Transparenz durch den IWF führte unabsichtlich dazu, dass sich der Scheinwerfer der Transparenz auf den IWF selbst richtete - mit dem Ergebnis, dass bei ihm nichts davon zu sehen war.
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Reformvorhaben

Im Anschluss an die Ostasienkrise und das Scheitern der IWF- Programme bestand allgemeines Einvernehmen darüber, dass etwas mit dem Weltwirtschaftssystem nicht stimmen konnte und dass etwas getan werden musste, um die Weltwirtschaft zu stabilisieren. Viele der Verantwortlichen im US-Finanzministerium und beim IWF waren jedoch der Meinung, dass es nur geringfügiger Änderungen bedürfe. Um die Belanglosigkeit der Veränderungen zu kaschieren, gaben sie der Reforminitiative den
hochtrabenden Titel Reform der Weltfinanzarchitektur. Diese Bezeichnung sollte suggerieren, man beabsichtige weitreichende Änderungen der Spielregeln, um künftige Krisen zu verhindern. Die Rhetorik verbarg wirkliche Probleme. So wie die Verantwortlichen des IWF alles taten, um von ihren Fehlern und syste- mischen Problemen abzulenken, so taten sie auch alles, um die Reformen zu unterlaufen, es sei denn, diese brachten dem IWF mehr Befugnisse und mehr Geld und erlegten den Schwellenländern weitere Verpflichtungen auf (wie etwa die Einhaltung neuer, von den entwickelten Industrieländern festgelegter Standards). Bei der »offiziellen« Reformdebatte geben weithin jene Institutionen und Regierungen den Ton an, die seit über fünfzig Jahren die Globalisierung »gestalten«. Weltweit wird die Reformdebatte heute mit unverhohlenem Zynismus begleitet. Die Vertreter der Entwicklungsländer, die denselben Personen gegenübersitzen, die von Beginn an für das System verantwortlich sind, fragen sich, ob es zu echten Veränderungen kommen würde. Was diese »Klientenländer« anlangte, war es eine Farce, in der die Politiker so tun, als unternähmen sie etwas gegen die bestehenden Ungleichheiten.
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In den Organisationen selbst herrscht bei vielen einflussreichen Mitgliedern eine bemerkenswerte Selbstzufriedenheit. Die Institutionen haben ihre Rhetorik geändert. Sie sprechen über Transparenz, Armut und Partizipation.
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Doch auch wenn die Veränderungen den Mitgliedern der Institutionen tief greifend erscheinen: mögen, kratzen sie doch nur an der Oberfläche.
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Sie versuchen, kritische Berichte unter Verschluss zu halten; oft ist es nur ihre Unfähigkeit, Indiskretionen zu verhindern, die schließlich die Offenlegung erzwingt. In den Entwicklungsländern herrscht eine wachsende Unzufriedenheit mit den neuen Programmen, die gemeinsame Armutsberichte vorsehen, da den Teilnehmern von vornherein gesagt wird, dass wichtige Belange, wie die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, nicht zur Diskussion stünden."
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Schuldenerlass

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Die Frage der moralischen Verantwortung der Gläubiger stellte sich mit besonderer Brisanz bei den »geopolitischen« Krediten, die während des Kalten Kriegs vergeben wurden. Als IWF und Weltbank dem berüchtigten Staatschef der Demokratischen Republik Kongo, Mobutu, Kredite zusagten, wussten sie (oder hätten es zumindest wissen müssen), dass der größte Teil des Geldes nicht den Armen zugute kommen, sondern auf die Konten Mobutus fließen würde. Dieses Geld war sozusagen der Preis dafür, dass dieser korrupte Diktator dem Westen die Treue hielt. Viele halten es für ungerecht, dass gewöhnliche Steuerzahler in Ländern mit korrupten Regierungen Kredite zurückzahlen müssen, die einer politischen Führung gewährt wurden, die sie nicht repräsentierte.
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Die weltweiten Proteste gegen die Globalisierung begannen bei den WTO-Tagungen in Seattle, weil die WTÖ das offensichtlichste Symbol der globalen Ungerechtigkeiten und der Heuchelei der Industrieländer ist. Während sie die Öffnung der Märkte in den Entwicklungsländern für ihre Industrieerzeugnisse predigten und erzwangen, schotteten sie ihre Märkte weiterhin gegen Produkte der Entwicklungsländer wie Textilien und Agrarerzeugnisse ab. Während sie den Entwicklungsländern predigten, ihre Wirtschaftszweige nicht zu subventionieren, unterstützten sie ihre eigenen Landwirte weiterhin mit Milliardenbeträgen, so dass die Entwicklungsländer nicht mithalten konnten. Während die Vereinigten Staaten über die Segnungen freier Märkte predigten, setzten sie sich energisch für globale Kartelle bei Stahl und Aluminium ein, sobald inländische Wirtschaftszweige durch Importe bedroht .wurden. Die Vereinigten Staaten drängten auf die Liberalisierung der Finanzdienstleistungen, aber sie widersetzten sich einer Liberalisierung jener Dienstleistungssektoren, in denen die Entwicklungsländer stark sind, nämlich Bauwirtschaft und Schiffsbau und Seetransport. Wie bereits erwähnt, ist das System des Welthandels so ungerecht, dass die ärmeren Länder nicht nur keinen angemessenen Anteil an den Früchten erhalten, sondern die ärmste Region der Erde, Afrika südlich der Sahara, nach der letzten Handelsrunde sogar schlechter dasteht als zuvor.
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Eine andere Gefahr, die wir in ihrer Tragweite nicht richtig ermaßen, ist die so genannte »Biopiraterie«: Internationale Pharmakonzerne lassen sich Wirkstoffe aus der traditionellen Medizin patentieren. Nicht genug damit, dass sie mit » Ressourcen « und Wissen Geld machen wollen, deren rechtmäßige Eigentümer die Entwicklungsländer sind, sie versuchen obendrein auch noch, die Firmen in jenen Ländern, die diese traditionellen Medikamente anbieten, aus dem Markt zu drängen. Obgleich diese Patente vor Gericht möglicherweise kei- nen Bestand hätten, haben die Entwicklungsländer weder die juristischen noch die finanziellen Mittel, um das Patent gerichtlich anzufechten. Das Problem sorgt in der Dritten Welt für erheblichen Unmut und weckt die Angst vor möglichen ökonomischen Verlusten. Ich besuchte unlängst ein Dorf in den ecuadorianischen Anden, und selbst dort wetterte der Bürgermeister, ein Indio, gegen die Globalisierung und die damit einhergehende Biopiraterie.
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Für eine Globalisierung mit menschlichem Antlitz

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Die Ideologie der freien Marktwirtschaft muss durch objektive volkswirtschaftliche Analysen und eine ausgewogenere Sicht der Rolle des Staates, die sowohl Markt- als auch Staatsversagen berücksichtigt, ersetzt werden, und wir müssen die Rolle externer Berater hinterfragen. Die internationalen Institutionen müssen die Folgen und Risiken, die mit alternativen Strategien verbunden sind, identifizieren, und sie dürfen widerstrebenden Ländern keine wirtschaftspolitischen Maßnahmen aufzwingen, sie müssen die Demokratie fördern, statt sie zu untergraben, und sie müssen nicht nur Wirtschaftswachstum, sondern auch soziale Gerechtigkeit begünstigen. Wachstum um seiner selbst willen ist nicht genug. Wir brauchen Strategien für ein nachhaltiges, gerechtes und demokratisches Wachstum. Das ist schließlich das Ziel der Entwicklungspo- litik. Entwicklung kann nicht darin bestehen, ein paar Menschen reich zu machen oder eine Hand voll geschützter Wirtschafts- zweige zu schaffen, die gesamtwirtschaftlich sinnlos sind und nur der Elite des Landes zugute kommen; sie kann nicht darin beste- hen, die reichen Städter mit Prada und Benetton zu beglücken und die armen Landbewohner ihrem Elend zu überlassen. Die Möglichkeit, in Moskauer Kaufhäusern Handtaschen von Gucci zu erstehen, bedeutet nicht, dass Russland zu einer Marktwirtschaft geworden ist. Entwicklung bedeutet, einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel anzustoßen, die Lebensbedingungen der Armen zu verbessern, allen Menschen Zugang zu gesundheitlicher Versorgung und Bildung zu verschaffen und ihnen die Chance zu geben, mehr aus ihrem Leben zu machen.

Wenn nur ein paar Leute die Wirtschaftspolitik diktieren, die ein Land befolgen muss, kann diese Art von Entwicklung nicht stattfinden. Um politische Entscheidungen demokratisch zu legitimieren, muss man ein breites Spektrum von Volkswirten, Regierungsvertretern und Experten aus den Entwicklungsländern aktiv an der Debatte beteiligen. Aber es bedarf darüber hinaus einer umfassenden Mitwirkung und Teilhabe, die weit über den Kreis von Experten und Politikern hinausgeht.
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Heute steht nicht der Erfolg des einen oder anderen Landes auf dem Spiel, heute geht es um die Zukunft der Weltwirtschaft. Erst wenn die internationalen Institutionen den vermutlich schmerzhaften Veränderungsprozess durchlaufen haben, können sie jene Aufgabe wahrnehmen, die sie eigentlich erfüllen sollten: der Globalisierung ein menschliches Antlitz zu geben. 
 


- ENDE -














































































Zur Person:

Joseph Stiglitz ist einer der weltweit bekanntesten Ökonomen. Er wurde 1943 in den USA geboren, war Professor in Yale, Princeton, Oxford und Stanford sowie Chefvolkswirt der Weltbank. Heute lehrt er an der Columbia University in New York. Im Januar 2004 erscheint sein Buch »Die Roaring Nineties. Jahre des Booms<<
 

Und aus dem Vorwort

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Im Jahr 1993 beendete ich vorläufig meine akademische Karriere, um Mitglied des Sachverständigenrats von Präsident Clinton zu werden, der sämtlichen Dienststellen der US-Regierung mit kompetentem wirtschaftswissenschaftlichem Rat zur Seite stehen sollte. Nach einer mehrjährigen Tätigkeit in Forschung und Lehre war dies mein erster größerer Ausflug in die politische Praxis, genauer: in die Praxis politischer Winkelzüge. Im Jahr 1997 trat ich dann in die Weltbank ein, in der ich fast drei Jahre lang - bis Januar 2000 - die Position des Chefvolkswirts und Senior Vice President bekleidete. Ich hätte mir keinen faszinierenderen Zeitpunkt für den Einstieg in die Politik auswählen können. Die sieben Jahre in Washington verschafften mir einzigartige, umfassende Einblicke in die Umwandlung der russischen Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft, Einblick vor allem auch in die Finanzkrise, die 1997 in Ostasien begann und schließlich auf die ganze Welt übergriff.
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