Interview
«Es
wird mit der Atombombe enden»
David Signer und Armin Guhl
Der Friedensforscher Johan Galtung erklärt,
warum Amerika im Kampf gegen das Böse bis zum Äussersten gehen
wird und weshalb George W. Bush und Osama Bin Laden einander ähneln.
Herr Galtung, morgen fliegen Sie nach Sri Lanka,
um zwischen Konfliktparteien zu vermitteln. Was ist das für ein Gefühl:
zu wissen, da am Tisch sitzt jemand, der ist für Morde und Gräuel
verantwortlich?
Niemals moralisieren. Die Grundthese ist immer:
Alles wäre vermeidbar, wenn man nur schon vorher den Konflikt ernst
genommen hätte. Natürlich hat immer der andere Schuld. Also frage
ich am Anfang, wie die eine Konfliktpartei die andere sieht. Und am Ende
kommt die peinliche Frage: Was glauben Sie, wie Ihr Gegenüber Sie
betrachtet? Dann heisst es meistens: Ja, da gibt’s ganz viel Propaganda.
Aber es ist eigentlich erstaunlich, wie kurz diese Phase ist.
Was hilft, um die Situation zu entkrampfen?
Humor ist sehr wichtig. Und Metaphern. Statt die
Lage in Sri Lanka zu analysieren, etwas über Nordirland sagen. Und
dann kommt immer der Punkt, wo jemand sagt: Das ist interessant, könnten
Sie das etwas näher erklären. Meistens meldet sich dann der Amateurpsychologe
zu Wort und sagt: Ja, aber die sind völlig anders als wir. Ich präsentiere
oft Schweizer Lösungen. Ja, die Schweizer, heisst es dann, die sind
eben nicht so heissblütig wie wir. Aber eigentlich weiss jeder, dass
es nicht darum geht.
Die erste Voraussetzung aber ist wohl, dass
sich die Konfliktparteien an einen Tisch setzen.
Nein, die Diplomaten machen immer den gleichen
Fehler: Sie wollen die gegnerischen Parteien um einen einzigen Tisch setzen.
Das geht nur, wenn sie alle gut vorbereitet und bereits auf einer "höheren
Ebene" sind, auch geistig. Konfliktlösung hat mit Kreativität
zu tun, und niemand ist kreativ, wenn er einem Mörder gegenüber
sitzt, und zwar dem Mörder seiner Verwandten, Nachbarn. Dann verlangt
man von ihm, kreativ zu sein, während sein Blut kocht? Das geht nicht.
Konkret: Wie würden Sie einen Krieg zwischen
Amerika und dem Irak vermeiden?
Es ist immer eine Frage der Zielsetzungen der
verschiedenen Parteien. Die Ziele des Iraks sind einfach. Sie haben mit
Grenzziehungen gegenüber Kuwait und Iran zu tun, mit der gemeinsamen
Ausbeutung der Ölfelder, mit der Devisenlage nach dem Krieg 1980-1988.
Wenn man über das Verbrechen der Besetzung Kuwaits - damals 19. Provinz
des Iraks, der Teil des Osmanischen Reichs war - durch britische Truppen
am Ende des 19. Jahrunderts gesprochen hätte, hätte man auch
viele Probleme nicht gehabt.
Welche Interessen hat Amerika?
Meine These ist, dass es den Amerikanern darum
geht, ein Land zu finden, das Saudi-Arabien ersetzen kann. Die USA werden
Saudi-Arabien aufgeben und es als Feind verstehen. Wenn 19 Araber, 15 von
ihnen aus Saudi-Arabien, am 11. September das World Trade Center und das
Pentagon in den USA angreifen, dann könnte es sein, dass das etwas
mit Saudi-Arabien und diesen Gebäuden zu tun hat. Diese These findet
man auch in der Weltwoche nicht. Sie ist zu klar und zu einfach.
Sie glauben also, dass Saudi-Arabien hinter
den Anschlägen steckt?
Nein, der Wahhabismus. Er ist die Staatsreligion
in Saudi-Arabien, sehr fundamentalistisch und dem Puritanismus auf amerikanischer
Seite sehr ähnlich. Das hat mit Tiefenkultur zu tun. Aber das eigentliche
Problem ist der Vertrag zwischen den USA und Saudi-Arabien von 1945. Er
ist den meisten unbekannt. Dort steht, dass die USA Zugang zu den Ölquellen
haben, im Gegenzug garantieren sie der Herrscherfamilie den Schutz gegen
Opposition. Denn die al-Sauds wussten: Was wir jetzt mit dem schwarzen
Gold tun, ist mit dem Wahhabismus nicht vereinbar. Sie haben die Bevölkerung
bestochen, und es hat funktioniert. Bis zum 11. September. Niemand in den
USA hat verstanden, dass es eine grausame Beleidigung für den Glauben
dieser Leute war. Denn der Wahhabismus ist asketisch, geistig, nichtmaterialistisch:
Geld zerstört die Verbindung zu Allah. Die Wahhabiten verbieten jegliche
Ausschmückung der Moscheen. Und nun kam im Kielwasser des Öls
all dieses Geld. Jetzt hat das Königshaus ein grosses Problem: Ist
es auf der Seite der Amerikaner oder des Wahhabismus? Um zu überleben,
ist es plötzlich ganz wichtig geworden zu zeigen, dass sie gute Wahhabiten
sind. Sie sagten den USA kurz nach dem 11. September: Raus. Die Amerikaner
waren empört und überrascht. Und versuchten den Medien weiszumachen,
dass es nicht wahr war. Es war aber wahr. Meine These ist also: Der Irak
ist ein Ersatzland für Öl und Militärbasen.
Er kann aber vom Ölvolumen her nie Saudi-Arabien
ersetzen.
Doch. Die Ölvorräte in Saudi-Arabien
scheinen zur Neige zu gehen.
Die Argumentation der USA, Saddam Hussein halte
Massenvernichtungsmittel bereit, sei eine Gefahr für den Weltfrieden...
...ist falsch. Sie haben etwas gehabt, aber das
ist alles zerstört. Die USA haben den Irak ja selber mit "kritischem
Uran" bombardiert, und das ist Massenvernichtung. Es geht um das, was die
Psychologen "Projektion" nennen.
Projektion?
Das Problem sind nicht die Massenvernichtungswaffen.
Die USA haben eine Liste von Grundsätzen. Die ist lang und nicht öffentlich.
Man muss zum Beispiel wissen, was JCS 570/2 ist.
Was ist das?
Ja, sehen Sie. Das ist die strategische Bibel
der USA von 1944. Sie skizziert die Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg,
und alles, was dort steht, haben sie umgesetzt.
Wollen Sie damit sagen, dass sich an der Zielsetzung
der amerikanischen Aussenpolitik seit sechzig Jahren nichts geändert
hat?
Überhaupt nichts. Alles nur eine Frage von
Gelegenheit und Möglichkeit. Die geopolitische Doktrin der USA seit
Anfang des Jahrhunderts lautet: Wer Osteuropa beherrscht, beherrscht Zentralasien,
wer Zentralasien beherrscht, beherrscht Eurasien. Und wer Eurasien beherrscht,
beherrscht die Welt. Die Welt beherrschen bedeutet zweierlei: den Welthandel
kontrollieren und militärisch dominieren. Dafür standen das World
Trade Center und das Pentagon. Die amerikanische These, die Anschläge
hätten sich gegen die westliche Zivilisation gerichtet, ist nicht
stichhaltig. Es ging ganz konkret gegen die ökonomische und die militärische
Dominanz Amerikas.
Also kein Kampf der Kulturen?
Die Amerikaner sind überzeugt, sie seien
von Gott auserwählt und die USA seien ein gelobtes Land. Gegen dieses
gelobte Land Gewalt auszuüben, ist ein Verbrechen gegen Gott. Bisher
haben dies nur zwei Mächte gewagt: die Japaner und die Terroristen.
Bei Japan endete es mit zwei Atombomben, deshalb ist es wahrscheinlich,
dass es auch diesmal mit Atombomben enden wird. Mit göttlichen Waffen.
Atombomben gegen den Irak?
Nein. Wenn die Amerikaner einen Verdichtungspunkt
finden, die Quelle des Übels, könnten sie sie einsetzen. Nicht
weil es militärisch effektiv ist, sondern psychologisch. Das Fegefeuer.
Für die Amerikaner war, noch vor Hiroshima und Nagasaki, klar, dass
Japan kapituliert hatte. Sie hatten nicht Rache im Sinn, sondern Strafe.
Das ist die amerikanische Tiefenkultur: Wir sind so hoch oben, so nahe
bei Gott, dass die normalen Gesetze der Menschheit nicht auf uns anwendbar
sind. Internationale Gesetze? Ja, aber nur wenn sie unseren Zielen dienen.
Uno-Truppen sind Feiglinge. Denn die eigentliche militärische Arbeit
besteht darin zu töten, und das machen wir.
Wenn Sie amerikanischer Präsident wären,
was hätten Sie am 12. September gemacht?
Ich hätte Larry King gebeten, eine Stunde
mit Bin Laden zu verbringen. Dann hätte CNN seine Partner von Al-Dschasira
angerufen, um die geeignete Grotte zu finden... Kein Witz. Larry King hat
ein ausserordentliches Talent. Wobei: Vielleicht wären zwei Sendungen
besser. Zuerst Larry mit Georgie, dann Larry mit Ossi. Und dann sagt Larry
zu Georgie: Ossi hat jetzt das und das gesagt. Direkt wäre es vielleicht
nicht gegangen.
Sie vermuten Bin Laden hinter den Anschlägen?
Bin Laden hat den bekannten Text verfasst, in
dem steht, jetzt seien endlich die Amerikaner gedemütigt worden, nachdem
mehr als achtzig Jahre lang die Muslime gedemütigt worden seien. 1916/17
waren die schlimmsten Jahre in der arabischen Geschichte. (Das Sykes-Picot-Abkommen
von 1916, in dem England und Frankreich ihre Interessesphären im Nahen
Osten absteckten, wurde von den Arabern als Verrat empfunden, weil es ihre
Hoffnung auf Unabhängigkeit enttäuschte; die Balfour-Deklaration
von 1917 ebnete den Weg zur Gründung des Staates Israel, A.d.R.).
Aber ich glaube nicht, dass die Anschläge von Bin Laden organisiert
wurden. Er war selber überrascht. Die 19 Attentäter hatten das
organisiert. Experten in Ägypten und Pakistan meinen, dass es al-Qaida
gar nicht gebe. Sie sei in Washington erfunden worden. Die Amerikaner bräuchten
so ein Phantombild.
Die USA haben aber nicht sofort zurückgeschlagen,
sondern erst mal Allianzen gebildet.
Die Entscheidung war sofort klar. Aussenminister
Colin Powell sagte: "We are going to identify al-Qaeda and crush it." Die
Uno ist nur aus einem Grund interessant: Legitimierung. Ausserdem braucht
die Kriegsvorbereitung Zeit. Der Krieg gegen Saddam wird wahrscheinlich
im Oktober losgehen.
Dass sich eine Nation nach einem Terroranschlag
militärisch wehrt, ist doch legitim.
Ich verstehe es völlig. Aber es wird nichts
lösen. Es wird weitere Gegenschläge provozieren, schlimmer als
am 11. September.
Die USA sollen noch die andere Wange hinhalten?
Ach, überlassen Sie das den Christen! Ich
mache sehr konkrete Vorschläge. Gewalt schafft Gegengewalt...
...aber ist oft die einzige Option. Siehe Hitler.
Falsch, es gab eine wunderbare Option: die Revision
des Versailler Vertrags. Man hätte nicht das ganze deutsche - und
nur das deutsche - Volk bestrafen sollen. Diesen Fehler hat man 1945 ja
auch nicht wiederholt. Was die Ablehnung des Versailler Vertrags betrifft,
hatte Hitler die Unterstützung der Deutschen, in den andern Punkten,
etwa der Judenvernichtung, nicht.
Aber hatte man 1939 noch Alternativen? Oder
am 11. September?
Nein, 1939 nicht mehr. Am 11. September auch nicht.
Aber im Mai vergangenen Jahres wäre noch vieles möglich gewesen.
Ich habe damals sechs Punkte vorgeschlagen: 1. Truppen raus aus Saudi-Arabien.
Das wäre vielleicht eine annehmbare Entschuldigung gewesen für
die Demütigung. 2. Ja zu einem palästinensischen Staat. Über
Details hätte man nachher reden können. 3. Herausfinden, was
die eigentlichen Zielsetzungen des Iraks sind. 4. Einen Dialog mit Chatami
im Iran. 5. Keinen Krieg gegen Afghanistan, um Ölquellen zu erobern
und eine Militärbasis zu haben, weil dies genau das Bild bestätigt,
das die Araber von den Amerikanern haben. 6. Versöhnung zwischen Amerikanern
und arabischen Opferländern, und zwar nach dem Vorbild der Deutschen.
Die haben das nach dem Krieg meisterhaft gemacht. Wenn man von den sechs
Vorschlägen drei im Mai realisiert hätte, hätte es keinen
11. September gegeben.
Sie geben fast alle Schuld Amerika, aber das
Land hat doch der Welt auch viel gebracht: Freiheit, es ist die älteste
Demokratie...
Klar gibt es innerhalb der USA eine gewisse Demokratie.
Ich habe acht Jahre dort gelebt. Das heisst aber nicht, dass die Amerikaner
auch auf der Weltbühne demokratisch sind. Sie haben keinen Respekt
vor der Uno oder vor einem internationalen Gerichtshof. Demokratie bedeutet
nicht nur Wahlen, sondern auch Respekt und Dialog. Gemeinsam neue Lösungen
finden. Wann haben die USA einen Dialog mit al-Qaida zu führen versucht?
Aber Sie sagen selber, das waren 19 Individuen,
Selbstmordattentäter. Kann man mit solchen Leuten einen Dialog führen?
Vielleicht nicht mit den 19, aber mit ihren Familien,
den Angehörigen, Nachbarn. Stattdessen bestätigt Washington jeden
Tag die Annahmen der Fundamentalisten. Am 30. Mai unterzeichneten die USA
einen Vertrag mit Turkmenistan über eine Pipeline. Es geht um Öl
aus Nordafghanistan und Kandahar. Damit werden alle Vorurteile bestätigt.
Aber es ist doch gut, dass die Taliban gestürzt
wurden, auch wenn es nur ein Nebeneffekt war.
Ja. Aber dann gäbe es viele Regimes, die
man wegbomben müsste. Und es war vielleicht nicht mal im Interesse
Afghanistans. Man sollte die Taliban weiterhin in die nationale Regierung
einbinden. Eine hundertprozentige Taliban-Regierung ist schrecklich. Aber
eine ganz ohne sie ist auch keine Lösung. Es gibt bessere, gewaltfreiere
Methoden, eine Regierung abzulösen. Erinnern Sie sich an die Montagsdemonstrationen
in der DDR. Ich bin nicht aus moralischen Gründen gegen Bombardieren;
es funktioniert nicht, es ist dumm.
Sie gehen davon aus, dass jeder Mensch für
gute Argumente zugänglich ist?
Nein, aber oft gibt es ein Umfeld, das zugänglich
ist. Ich habe Tausende Vermittlungsdialoge geführt. Meine Erfahrung
ist, dass es in jedem Menschen etwas gibt, worauf man bauen kann.
Kommen Sie oft selber in die Schusslinie?
Manchmal bin ich überrascht, dass ich überlebt
habe. Ich bin 71, guter Gesundheit, man hat mich bis heute nicht vergiftet.
Ich bekomme manchmal böse Briefe, aber das ist nicht so schlimm. Ich
versuche einfach, lösungsorientiert zu arbeiten. Ich glaube, dass
es Lösungen gibt. Meistens ist das für die Leute eine gute Nachricht,
weil sie glauben, es gebe keine Alternativen mehr.
Wie zum Beispiel in Israel.
Auch da gibt es eine Lösung, allerdings keine
bilaterale. Dafür gibt es zu viel Hass, Leiden, Blut. Aber es könnte
eine Lösung geben unter Einbezug der Nachbarländer. So wie es
keine Lösung hätte geben können nur zwischen Deutschland
und Frankreich, aber zusammen mit andern europäischen Ländern
ging es. Bilateralen Hass abbauen in multilateralem Umfeld. Ich habe diese
Ansicht die letzten Jahre oft eingebracht, und ich glaube, sie reift langsam.
Vielleicht ist es in fünf Jahren so weit.
Warum sollte der Stärkere nachgeben?
Weil er in Wirklichkeit der Schwächere ist.
Er sieht nur stark aus. Hätte Bush nach dem 11. September gesagt:
Offenbar haben wir die religiösen Gefühle vieler Menschen in
Saudi-Arabien beleidigt, und hätte er die amerikanischen Truppen aus
Saudi-Arabien zurückgezogen, hätte ihn die ganze arabische Welt
umarmt. Und er hätte fünzig Milliarden Dollar gespart. Aber Bush
hat nicht das persönliche Format hierfür. Er ist ein Instrument.
Der Ölindustrie?
Es ist komplizierter und hat wieder mit der Tiefenkultur
zu tun. Für Bush war der Terrorschlag ein "cultural assault", ein
Angriff auf die amerikanische Kultur. Bush ist davon überzeugt, dass
die Amerikaner eine kulturelle Botschaft haben. Sie in die Welt zu tragen,
ist seine eigentliche Mission. Öl und Militär sind nur Nebensachen,
bequem für die Marxisten und die realpolitische Analyse. Aber die
kulturelle Analyse bringt uns weiter.
Was ist denn die Tiefenkultur der Deutschen?
Die hat sich verändert, bis zu einem bestimmten
Punkt. "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen" war ein Ausdruck dafür.
Die Ausstrahlung. Dass in der Gesellschaftsstruktur und in der Persönlichkeit
etwas eingebaut sei, was für die Welt ein Geschenk sei. Deshalb müssten
die Deutschen oben sein. Diese Einstellung gab es schon lange vor Hitler.
Zur Kaiserzeit, etwa ab 1200. Heute ist es anders.
Aber Schröder spricht neuerdings vom "deutschen
Weg".
Das macht mir Angst. Ich möchte gerne einen
menschlichen Weg finden. Ich sage immer: Ich finde es wunderbar, wenn die
Deutschen auf der Suche nach einem Sinn sind. Wenn sie ihn gefunden haben,
dann wird es ernst. Dann glauben sie daran.
Was uns noch mehr interessieren würde:
die Tiefenkultur der Schweizer...
...lässt sich thesenartig in einem Satz zusammenfassen:
"Wir sind ein Sonderfall, wir stehen ganz ausserhalb der Welt, und deswegen
sind wir nicht nachahmbar." Darum sind die Schweizer auch nicht so gute
Botschafter für die Welt. Ich glaube, dass die Schweiz eine Menge
gute Lösungen gefunden hat. Aber warum machen sie nicht mehr daraus?
Weil sie denken, dass dies nichts für andere Leute ist. Ich schlug
einmal bei einer Konferenz vor, Kosovo als unabhängiges Land mit einem
oder zwei serbischen Kantonen zu konzipieren. Man könnte alles zweisprachig
anschreiben, wie die viersprachig beschrifteten Milchkartons in der Schweiz.
Als Beispiel zeigte ich eine Schweizer Zehnernote. Die Leute hatten keine
Ahnung, dass so etwas überhaupt existiert und möglich ist. Kein
Schweizer ist da gewesen, um ihnen zu sagen: Wir haben ein Modell, das
interessant ist. Interessant auch für Afghanistan mit seinen zwölf
Nationen.
Und dennoch haben Sie gewisse Sympathien für
den schweizerischen Sonderweg.
Wenn man eine alternative Politik hat, muss man
dafür einstehen. Das kann man auch in der EU. Aber dann muss man sagen:
Ja, wir möchten Mitglied sein, und wir würden gerne Folgendes
bewirken. Die Schweiz sagt das nie. Stattdessen fordert sie, den Gütervekehr
von der Strasse auf die Schiene zu verlegen, aber das betrifft ja nur die
Schweizer. Deswegen sind sie keine guten Demokraten, denn Demokratie ist
Dialog, und da muss man reden.
Die Schweizer sind keine guten Demokraten?
Gegenüber der EU. Ich sähe beispielsweise
gerne, dass die Regierung sagen würde: Wir haben Volksentscheide in
der Schweiz, Initiativen und Referenden. Ist die EU dazu bereit?
Das ist aber nicht der Grund, warum Sie in Frankreich
wohnen und nicht in der Schweiz?
Ich schaue die Schweiz gern an. Aber man sieht
besser, wenn man ein bisschen ausserhalb ist.
Wie steht es denn mit der Lernfähigkeit
von Nationen?
Es ist tragisch, aber es scheint, dass es meist
nur über Katastrophen geht. Es ist ja genau dasselbe mit den Individuen.
Sie kommen zum Therapeuten, wenn sie eine schlimme Krise erlebt haben.
Es wäre aber nicht schlecht, wenn sie früher kommen würden.
Welches Land gehört denn Ihrer Ansicht
nach vor allem auf die Couch?
Heute wären die USA der Hauptkandidat. Es
müsste also eine ganz grosse Couch sein. Aber ich glaube auch, dass
die USA die Fähigkeit haben umzudenken. Nicht heute, aber vielleicht
morgen. Ich könnte mir vorstellen, dass ein Präsident kommen
wird, der sagt: "Americans, I have an important message tonight: Wir sind
nicht allein, aber meistens sind wir selber daran schuld, wenn wir Probleme
haben."
Mit welchem Menschen würden Sie jetzt am
liebsten eine Stunde verbringen?
Mit Bush und Bin Laden. Ich lehne beide als Fundamentalisten
ab, sie haben dieselbe Tiefenkultur. DMA, wie ich das nenne: Dualismus,
Manichäismus, Armageddon. Dualismus: Die Welt ist zweigeteilt. Manichäismus:
Es gibt die Bösen und die Guten. Armageddon: Das kann nur mit einer
Endschlacht entschieden werden.
Bei welchem der beiden hätten Sie mehr
Hoffnung auf ein gutes Gespräch?
Also, der Intelligentere ist bestimmt Bin Laden.
Wenn Intelligenz eine Zugangstür ist, könnte ich diese Tür
öffnen. Auch bei Bush gäbe es etwas: das Amerikanische. Ich könnte
ihn fragen: Wäre es nicht besser für Amerika, sich durch Demokratie
und Dialog auszuweisen? Wie zum Beispiel mit einer Initiative für
ein Uno-Parlament. Eine Stimme pro Million Einwohner. Das heisst 270 Stimmen
für die USA, aber 1250 Stimmen für die Chinesen. Es wäre
problematisch, aber die Welt würde die USA umarmen.
Und die Amerikaner hätten nichts mehr zu
sagen. Einmal umarmt, und das wäre das Ende.
Nein, sie hätten immer noch 270 Stimmen.
Sie könnten sich gut vorbereiten, und das machen sie ja auch häufig,
wenn sie gut arbeiten.
Und Sie glauben, Bush würde sagen: Yes,
Mister Galtung, you are right?
Die Frage war nur, mit wem würde ich gerne
zusammentreffen... Im Übrigen bin ich nicht davon überzeugt,
dass der Weg über Bush oder Bin Laden gehen muss.
Sie sind Optimist. Aber wenn man wie Sie davon
ausgeht, dass Bush und Bin Laden Brüder im Geiste sind, was das Ziel
der Endschlacht angeht - da müsste man doch verzweifeln.
Oder die beiden analysieren. Es geht jetzt eine
Welle von Kritik am Fundamentalismus durch die arabische Welt, weil die
Araber zu Recht sagen: Die verbreiten ein schlechtes Bild des Islams in
der Welt. Ich erwarte jetzt dieselbe Bewegung in den USA, gegen den amerikanischen
Fundamentalismus. Das kommt. Da bin ich zuversichtlich.
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