Die Monster, die wir rufen
DIE NACHRICHTENGESELLSCHAFT
Joshua Meyrowitz ...
FREITAG: Das politische System der USA verlagert sich weiter nach rechts, zugleich verabschiedet sich der überwiegende Teil der Bevölkerung von der Politik, da immer weniger über die wirklichen Absichten der Politiker zu erfahren ist. Wie haben die elektronischen Massenmedien zu dieser konservativen Revolution beigetragen ? JOSHUA MEYROWITZ: Ich glaube, wir erleben bei uns
eine Kontroverse, bei der zwei Mythen aufeinanderprallen: hier das "gute
Amerika" im Stil der Cowboy- und Westernfilme, in denen ein Mann in die
Wildnis zieht und dort Gutes tut - und dort eine entgegengesetzte Strömung,
die eher mit John Lennon und dem Geist der sechziger Jahre zu tun hat.
Auch bei Letzterem spielt die Zentrierung der Kultur auf das bewegte Bild
- vor allem das Fernsehen - eine wichtige Rolle. Eben jenes Fernsehen -
das durch eine radikale Kommerzialisierung inhaltlich nichts transportieren
darf, was den Warenkonsum irgendwie behindert - ruft bezogen auf den individuellen
Lebensstil durchaus eine emanzipatorische Wirkung hervor. Das erklärt
den eklatanten Widerspruch zwischen den sehr viel weniger konservativen
privaten Auffassungen einer Mehrheit der Amerikaner und den politisch rechten
Ansichten ihrer Politiker.
Amerikas Journalismus gilt vielen europäischen Berufskollegen als Vorbild. Bei Ihnen erscheinen die USA dagegen eher als Medienwüste, in der wirkliche politische Debatten blockiert werden. Ja, weil Mythos und Realität unseres Journalismus in einem offenen Widerspruch stehen. Der informierte Bürger als tragende Säule der Demokratie ist seit der Niederschrift unserer Verfassung Grundlage der amerikanischen Republik. Alle Schulen lehren das. Was sie nicht lehren: dass unsere Medien alles andere als demokratisch organisiert sind. Es gibt überall steile Hierarchien, die wie Zensurinstanzen funktionieren. Da bedarf es gar keiner expliziten Absprache darüber, was berichtet wird und was nicht. Es ist klar, dass in einem Umfeld, das durch zahllose Werbe-Doppelseiten etwa der Automobilindustrie geprägt ist, kritische Berichte über Autos keinen Platz haben. Das heißt natürlich nicht, dass ein negatives Testergebnis eines bestimmten Modells nicht erscheinen kann. Es ist aber unmöglich, Zweifel am Auto als Transportmittel überhaupt zu formulieren. Man kann nicht fragen, warum unser öffentliches Nahverkehrssystem so schlecht ist. Man darf die Verflechtung von Automobil- und Ölindustrie nicht thematisieren. Völlig unmöglich wäre es, darüber zu schreiben, dass der Durchschnittsverbrauch amerikanischer Autos seit den Achtzigern um acht Prozent gestiegen ist, so dass wir wegen des Öls in Saudi-Arabien seit Jahrzehnten eine anachronistische Monarchie unterstützen, die weder Religions- noch Pressefreiheit kennt. Mit einem solchen Bericht hätte man als Journalist genau die Grenze überschritten, die festlegt, was als "objektiver Journalismus" gilt. Dennoch hält sich der Mythos vom "objektiven Journalismus". Deshalb muss man ihn ja nachdrücklich in Frage
stellen. Eine weitere wesentliche Eigenart des amerikanischen Journalismus
ist doch auch, dass sich Recherche im Normalfall auf die offiziellen Aussagen
der Amtsträger beschränkt. Wenn man die Berichterstattung über
die Aktivitäten der Vereinigten Staaten in den achtziger Jahren in
Latein- und Mittelamerika untersucht, stellt man fest, wie verriegelt die
amerikanischen Medien gegenüber oppositionellen Bewegungen im eigenen
Land waren. Es gab Millionen von Menschen, die an den Universitäten,
in Schulen, auf Straßen gegen die US-Politik in der Region protestierten.
In den Medien - besonders im Fernsehen - herrschte die stillschweigende
Übereinkunft, an der Regierungsversion der Geschehnisse auf dem Subkontinent
festzuhalten. Es klingt wie eine Ironie der Geschichte, aber die Einseitigkeit
der Medien ist in diesem Land viel größer als in einem totalitären
System. In einer Diktatur suchen die Menschen nach alternativen Informationsquellen,
sie sprechen mit Ausländern oder lesen Untergrundzeitungen. Hier,
wo die Pressefreiheit eine Selbstverständlichkeit ist, können
die Menschen gar nicht verstehen, warum es so wichtig ist, sich auch aus
anderen Quellen als den tonangebenden Massenmedien zu informieren. Sie
wollen solchen Quellen einfach nicht glauben, gerade weil
Lassen Sie uns über Machtstrukturen sprechen, die das amerikanische Fernsehen prägen. Der Kanal NBC zum Beispiel gehört zu General Electric, einem der größten Rüstungskonzerne. In welchem Ausmaß kontrolliert das Big Business wirklich den US-Fernsehmarkt? Wenn man die befragt, die in diesen Medien arbeiten,
so schwören sie jeden Eid: es gibt keinerlei direkte Einmischung der
Konzerne. Andrew Hayward beispielsweise, der die CBS-Nachrichtenredaktion
leitet, besteht darauf, dass er noch nie vom Viacom-Konzern, zu dem CBS
gehört, irgendwelche Weisungen erhalten habe. Vor kurzem wurde er
gefragt, warum die Berichterstattung über den sogenannten "Anti-Terror-Krieg"
so einseitig verlaufe. Seine Antwort war ein Ausbruch der Empörung.
Ob man mit dieser Frage seinen Patriotismus bezweifeln wolle? Schließlich
sei er zuallererst Amerikaner! Wenn Personen wie Hayward für die News
verantwortlich sind, bedarf es keiner expliziten Direktive der Mutterkonzerne.
Dabei ist er sicher ein sehr fähiger Journalist, aber völlig
befangen im gängigen politischen Diskurs und unfähig, Fragen
zu stellen, die darüber hinausgehen. Solange aber führende Journalisten
keine wirklich bohrenden Fragen stellen, solange die Rolle der USA als
unschuldiges Opfer keinerlei Zweifel unterliegt, braucht man keinen Zensor
mit der Schere. Nicht, dass solche Fragen die Terroranschläge irgendwie
entschuldigen könnten, aber sie würden gewiss helfen, Hintergründe
und Zusammenhänge aufzuklären.
Ist das eine Entwicklung des US-Journalismus, die sich erst in den vergangenen Jahren ergeben hat. Wenn ich daran denke, dass die Journalisten, die seinerzeit "Watergate" aufgedeckt haben, heute für die "Washington Post" Artikel über Betrügereien von Sozialhilfeempfängern schreiben, scheint das eine dramatische - fast historische - Veränderung des Journalismus in Amerika. Wahrscheinlich überrascht Sie jetzt meine
Antwort, aber ich glaube, die Dinge sind heute eher besser als früher.
Watergate war so etwas wie eine Entgleisung. Watergate war für die
"Post" zunächst eine Einbruchsgeschichte für den Lokalteil. Das
Blatt schickte zwei völlig unerfahrene Polizeireporter hin, und die
machten - gemessen an unseren journalistischen Standards - einen großen
Fehler. Sie holten sich keine offiziellen Verlautbarungen, sondern gingen
in die Asservatenkammer der Polizei, fragten dort, was man in den Taschen
der Einbrecher im Watergate-Hotel gefunden hatte, und stießen auf
die Notizbücher mit den Telefonnummern, die sie zum "Komitee für
die Wiederwahl des Präsidenten" führten. Die politischen Redakteure
der "Post" glaubten zunächst gar nicht an die Ergebnisse der Recherche
von Bob Woodward und Carl Bernstein und brachten in schöner Regelmäßigkeit
die Dementis des Weißen Hauses. Die anderen Medien brauchten noch
länger, bis sie die Story endlich anpackten. Die amerikanischen Journalisten
können auf Watergate stolz sein, weil zwei kleine Polizeireporter
die Sache aufdeckten, aber sie müssen sich zugleich schämen,
weil die Medien insgesamt jämmerlich versagt haben.
Und das wird allseits hingenommen? Es gibt auch eine Gegenbewegung: Während in den Medien die Berichterstattung immer weiter verengt wird, gibt es in den USA einen zusehends breiteren Zugang zu unzensierten, unkontrollierbaren Informationen durch das Internet. Vielleicht bin ich zu optimistisch, aber die Spannung zwischen dem durch die Medien erzeugtem Selbstbild Amerikas und der Flut von Nachrichten und Bildern, die durch dieses interaktive Medium ins Land strömen, muss irgendwann zum Bruch führen. Ich glaube dieses System muss zusammenbrechen, weil das Wissen darüber wächst, wie viele Informationen unterdrückt werden. Sie haben das Verschmelzen von vorher deutlich unterschiedenen sozialen Handlungsräumen als eine der wichtigsten Wirkungen des Fernsehens bezeichnet. Für Politiker führt diese permanente "Nahaufnahme" zu einer spürbaren Veränderung: Es geht nicht mehr um Inhalte, sondern um die Fähigkeit, Emotionen beim Publikum zu wecken. Folgt daraus, dass die Wirkung des Mediums Fernsehen mit seiner Obsession der Unmittelbarkeit politische Debatten eigentlich unmöglich macht? Die Nahaufnahme des Fernsehens rückt Politiker
tatsächlich so dicht vor die Augen der Zuschauer, dass sie in ganz
anderer Weise beobachtet werden können. Durch das Fernsehen werden
Politiker in gewisser Weise "menschlicher". Das bedeutet, dass ganz andere
Fähigkeiten von ihnen erwartet werden. Al Gore hatte zum Beispiel
im Präsidentenwahlkampf das große Handikap, dass er zu viel
wusste. Er wirkte wie ein Streber, mit dem man nicht gern ein Bier trinken
geht. Während George Bush mit seiner Naivität und eklatanten
Unwissenheit als der nette Junge von nebenan erschien. Über das Fernsehen
kommt diese Haltung des scheinbar völlig informellen Gesprächs
eben an, komplexere Inhalte lassen sich viel schwerer transportieren.
Das Gespräch führte Stefan Fuchs
http://www.freitag.de/2002/51/02510701.php
Dazu auch noch was älteres: Reporter ohne Grenzen veröffentlicht den ersten weltweiten Index der Pressefreiheit. Und er enthält einige Überraschungen für die westlichen Demokratien: die USA bieten weniger Pressefreiheit als Costa Rica und Italien weniger als Benin. Finnland, Island, Norwegen und die Niederlande respektieren die Freiheit der Presse in ihren eigenen Ländern am meisten und setzen sich auch für Pressefreiheit in anderen Ländern ein. Deutschland liegt hinter Kanada und Irland auf Platz 7, die USA auf Platz 17, hauptsächlich wegen zahlreicher inhaftierter Journalisten. Das Ranking basiert auf einer Umfrage bei Journalisten, Forschern und Rechtsexperten und umfasst 139 Länder. http://www.schockwellenreiter.de/2002/10/24.html
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