Die zwei Türme und Bushs großes Schachbrett. 

Der Krieg und das strategische Projekt des US-Imperialismus

von Andrea Catone

Die Gefährlichkeit der Lage, die sich nach den Terroranschlägen auf die beiden Türme des World Trade Centers in New York und auf das Pentagon in Washington entwickelt hat, ist, wie mir scheint, in ihrer ganzen Tiefe und mit all ihren schrecklichen Implikationen noch nicht begriffen worden.

Außer Bestürzung und Entsetzen über den Anschlag, wegen der Tausende von Toten, wegen der spektakulären Umstände, die noch den einfallsreichsten Filmdrehbuchschreiber vor Neid erblassen lassen können, haben sich die meisten der bislang «in der Linken» in Umlauf gebrachten Kommentare auf die vorbehaltlose und entschiedene Verurteilung des Terrorismus konzentriert (eine Verurteilung, die seit Lenin zum gesicherten Erbe der Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts gehört) und haben gleichzeitig vor allem die Befürchtung geäußert, die US-Regierung könnte in ihrer Rache, ihrer Vergeltung, ihrer Antwort «überziehen»... Was aber, wenn die Kriegserklärungen Bushs ein Vorhaben sind, ein sich auf dem großen Schachbrett der Weltpolitik schon seit einiger Zeit abzeichnendes strategisches Programm, das im Verlust zweier Türme die Gelegenheit zu einer außerordentlichen Beschleunigung sieht?

1991-2001: Von «internationalen Polizeimaßnahmen» zu «Krieg»
Luigi Ferrajoli schreibt: «War das Massaker der vergangenen Woche eine ‹Kriegs›handlung, wie sofort behauptet wurde, oder ein Akt des ‹Terrorismus›? Hat es sich um eine kriegerische Aggression gehandelt, oder doch um eine kriminelle Tat, genau gesagt, ein Verbrechen gegen die Menschheit? Kriege werden von Staaten geführt. Sie haben Grenzen und Territorien, reguläre Truppen, klare und erkennbare Feinde. Hier dagegen haben wir es mit eine verbrecherischen Delikt zu tun, wenn auch einem von außergewöhnlicher Schwere: mit einem terroristischen Verbrechen, begangen von einer organisierten, verzweigten, äußerst mächtigen Bande. [...] Eine Kriegshandlung wird mit Krieg und allgemeiner Mobilmachung – der ganzen NATO, wie in diesem Fall – gegen den Aggressorstaat beantwortet. Ein Verbrechen, und sei es noch so schwer, mit der Bestrafung der Schuldigen: also nicht mit Streitkräften oder einer weltweiten Koalition von Streitkräften, sondern mit Polizei; nicht mit Krieg, sondern mit dem Recht; nicht mit Bombardements, sondern mit der schwierigen Ermittlung der Verantwortlichen.» Worte haben Gewicht, vor allem wenn es die Mächtigsten der Welt sind, die sie aussprechen. Und das erste, was man beobachten kann, ist, dass ein regelrechter – gefährlicher und keineswegs zufälliger – linguistischer Umsturz vollzogen wurde; denn das Wort «Krieg» wurde vom US-Präsidenten, seinen Ministern und den Ministern der mit den USA «befreundeten» Regierungen nicht nur spontan, in einer ersten Aufwallung angesichts der Geschehnisse ausgesprochen, sondern wurde bekräftigt, erweitert und benutzt bis hin zu seinen sehr direkten Wirkungen in Form der Einbeziehung der NATO. 

Innerhalb eines Jahrzehnts sind wir von der Verdrängung des Wortes «Krieg» und dessen Verniedlichung unter Formeln wie «internationale Polizeioperation» (gegen den Irak 1991) oder «humanitäre Intervention» (gegen Jugoslawien 1999) zum «Krieg» ohne Wenn und Aber voran- bzw. zurückgeschritten. Und auch das muss merkwürdig erscheinen: die Kriege gegen den Irak und Jugoslawien waren, auch ohne formelle Kriegserklärung, in jeder Hinsicht Kriege, da sie von einer Koalition von Staaten mit ihren jeweiligen Streitkräften gegen andere souveräne Staaten geführt wurden, die man der Verletzung des Völkerrechts (Invasion in Kuwait) oder der Menschenrechte von Bevölkerungsgruppen innerhalb des angegriffenen Staates (Jugoslawien, wegen der ethnischen Albaner des Kosovo) beschuldigte. Und um diese Kriege zu führen war es notwendig, im einen Fall das Ziel der Wiederherstellung der verletzten Souveränität eines Staates (und sei es auch ein Marionettenstaat wie Kuwait) zu bemühen, im anderen das Recht auf «humanitäre Einmischung» in die inneren Angelegenheiten eines Staates unter dem Vorwand der Wiederherstellung verletzter Menschenrechte zu betonen. 

«Internationale Polizeioperation» oder «militärische humanitäre Intervention»: der Diskurs jener, die tatsächlich Krieg führten, gründete auf der Negation des Krieges, das Wort war tabu. Vom Krieg zu sprechen war nicht politisch korrekt. Warum? Ich glaube, der Grund ist in der Entwicklung zu suchen, die mit dem Fall der Berliner Mauer begann: die grundlegende «Große Erzählung» des siegreichen Kapitalismus sprach von der stürmischen Entwicklung des Kapitalismus bei der Eroberung der östlichen Märkte, von all den großartigen Fortschritten, die die Menschheit aus der Vereinigung der «freien Welt» zu erwarten habe; einer Welt, die sich als reich an vielversprechenden Wohlstandsentwicklungen darstellte, sobald erst einmal die jeweils aktuellen Übertäter von der Bühne verschwunden wären: die Saddam, die Milosevic, jene wenigen und leicht zu isolierenden Banditen der neuen Weltordnung, die Schurken, die es zu fangen und in Schach zu halten galt, damit sie der «internationalen Gemeinschaft» nicht schädlich werden konnten. In diesem Kontext rechtfertigte man die periodischen anglo-amerikanischen Luftangriffe gegen Bagdad, oder die «präventiven» «Polizei»-Maßnahmen gegen den Sudan; die Embargos gegen den Irak, gegen Jugoslawien, gegen Kuba, das internationale Tribunal von Den Haag.

Im Lauf der 10 Jahre, die uns von der «internationalen Polizeioperation» trennen, haben die Apologeten des westlichen Kapitalismus versucht, das Szenario einer neuen, vereinten, «globalisierten», widerspruchsfreien Welt in Worte und Bilder zu fassen. Die Möglichkeit einer sozialistischen, auf gesellschaftliches Eigentum und Planung gegründeten Ordnung wird negiert, negiert wird der Klassenkampf, negiert der Widerstand der Völker: es gibt nur Verbrecher und Verbrecherstaaten, die durch die multinationale Polizeimacht unter Führung der USA der Gerechtigkeit zu überantworten sind. Es war eine äußerst scheinheilige, geradezu lächerliche verbale Übung: man erinnere sich nur an die widerlichen Erklärungen der europäischen Sozialdemokratie. Und doch, der Krieg sollte exorziert sein, die Bevölkerungen, bombardiert mit strategischer Desinformation durch die Massenmedien, sollten in der Illusion leben, dass es sich um etwas handle, das zwar unleidlich und schmerzhaft, aber auch bloß vorübergehend, flüchtig, zufällig sei (eine «Unannehmlichkeit», würde der kreative Cavaliere [Berlusconi] sagen).

Ein Zwischenfall also, der, wenn er auch zeitweilig die Weltordnung stört, deren gefestigten Lauf absolut nicht verändern kann. In dieser Kommunikationsstrategie wurden die Beruhigungs- und Beschwichtigungsformeln bemüht: nicht nur wird der Krieg exorziert, auch von den Opfern (Tote, Verwundete, Kranke, Verelendete, Flüchtlinge) ist nicht die Rede; allenfalls handelt es sich um «Kollateralschäden», Nebeneffekte wie die, welche ein Heilmittel, eine Medizin hervorrufen kann, ein Fall auf hunderttausend. Und wenn es sich wirklich nicht mehr vermeiden lässt, wird versucht, die Bedeutung des Schadens zu minimieren, wird eine möglichst niedrige Zahl von Gefallenen genannt, um dem negativen Ereignis so wenig Bedeutung wie nur möglich zu geben. Kurz, das Gegenteil dessen, was die US-amerikanischen Behörden im Fall des Anschlags von New York gemacht haben, wo die Zahl der Tausende von Opfern vervier- und verzehnfacht wurde, wo der Bürgermeister Giuliani die Evakuierung ganzer Viertel anordnete, fast als wären sie von einem Flächenbombardement betroffen worden, und wo sofort das Wort «Krieg» zu hören war. Wie Ferrajoli schreibt, wäre das Attentat als solches, wenn auch von ungeheurem und spektakulärem Ausmaß, mit Polizeimaßnahmen zu verfolgen. Stattdessen wird zum Begriff Krieg gegriffen. Und damit nicht genug: in Aussicht gestellt wird nicht einen schnelle und «chirurgische» Aktion, wie sie gegen Jugoslawien angekündigt wurde; sondern es wird ein langer, schwieriger und blutiger Krieg angedroht, der unvermeidlicherweise auch unschuldige Opfer fordern werde.

Amerikazentrismus und «Krieg des 21. Jahrhunderts»
«Dies ist der erste Krieg des 21. Jahrhunderts», gaben in fetten Schlagzeilen viele Tageszeitungen vom 14. September Bushs Worte wieder. Es wurde nicht bemerkt, dass dieser Ausdruck «Krieg des 21. Jahrhunderts», bereits in dem Auftrag enthalten war, den George W. Bush seinem Vizeverteidigungsminister Donald Rumsfeld erteilt hatte: «den im Pentagon herrschenden Status quo in Frage zu stellen [und] eine Strategie zu entwickeln, die notwendig ist, um über eine für den Krieg im 21. Jahrhundert ausgerüstete Streitmacht zu verfügen». «Die neue Architektur der amerikanischen Verteidigung wird», so schreibt Michael T. Klare, auf drei Pfeilern beruhen: erstens Amerikazentrismus, also die Doktrin, wonach Streitkräfte im Ausland – auch bei gemeinsamen Operationen mit Verbündeten – ausschließlich im Interesse der USA einzusetzen sind; zweitens globale Intervention, also die Fähigkeit, an allen Punkten der Erde, jederzeit und unter allen erdenklichen Bedingungen militärisch präsent zu sein; und schließlich dauerhafte Vorherrschaft, das heißt, Einsatz von Wissenschaft, Technik und Kapital mit dem Ziel, die Überlegenheit der amerikanischen Streitkräfte und Waffensysteme über die aller anderen Staaten zu sichern.» Es handelt sich, fährt Klare fort, um eine wirkliche Wende im strategischen Denken der USA. «Die Militärdoktrin ist stets von der Voraussetzung ausgegangen, dass ein Einsatz von US-Streitkräften im Ausland den vitalen Sicherheitsbedürfnissen des Landes zu dienen habe ... Doch mit diesen Interessen sollten immer auch noblere Ziele verfolgt werden – Verteidigung der Demokratie, Kampf gegen den Totalitarismus, Zusammenhalt der westlichen Allianz, Erhaltung des Friedens. Diese Ziele sind nun [mit George W. Bush] zwar nicht völlig verschwunden, aber sie werden beiseite gedrängt, insofern die Verfolgung nationaler Interessen eine ausdrückliche Priorität erlangt.» Schon zwei Jahre vor dem Anschlag auf die «zwei Türme» erklärte Bush, dass «die Verteidigung Amerikas ... im neuen Jahrhundert eine vorrangige Rolle spielen» wird, was in seinen Augen die Stationierung des NMD-Systems «zum frühestmöglichen Zeitpunkt» bedeute. 

Amerikazentrismus. «Wir sind das Zentrum, und wir müssen es bleiben […] Die Vereinigten Staaten müssen als leuchtendes Beispiel vorangehen und als moralische, politische und militärische Führungsmacht die Fackel von Recht und Ordnung in die Welt tragen.» «Das siebzehnte Jahrhundert gehörte Frankreich, das neunzehnte Großbritannien, das zwanzigste den Vereinigten Staaten. Das kommende Jahrhundert wird erneut den Vereinigten Staaten gehören.» «Amerika überragt die Welt wie ein Koloss […] Seit Rom Karthago zerstörte, hat keine andere Großmacht solche Höhen erklommen wie wir.»

«Seit 1991», schreibt Golub, «ist die politische Dominanz der Vereinigten Staaten unangefochten – eine Situation, die in der neueren Geschichte ihresgleichen sucht. Während das britische Empire am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem aufstrebenden Deutschen Reich einen ernst zu nehmenden Rivalen bekam, haben die Vereinigten Staaten in absehbarer Zeit mit keinem strategischen Gegner zu rechnen, der in der Lage wäre, das globale Kräftegleichgewicht in Frage zu stellen. Ihre ökonomischen Hauptkonkurrenten Europa und Japan sind in eine strategische Allianz eingebunden. Ihre politische Einflusssphäre und ihr Handlungsspielraum haben sich deutlich ausgeweitet, und auf ökonomischer Ebene bestimmen sie nach wie vor die Regeln, Normen und Zwänge der internationalen Wirtschaftsordnung. Seit 1991 verfolgt die US-Außenpolitik einzig und allein das Ziel, diesen vorteilhaften Status quo aufrechtzuerhalten.» 

Die neue US-Strategie begann sich bereits in der im August 1991 vom Weißen Haus veröffentlichten Direktive National Security Strategy of the United States klar abzuzeichnen, etwa sechs Monate nach dem Ende des Golfkriegs, als die UdSSR formal noch nicht zerschlagen war: «Wenn es eine historische Analogie zur gegenwärtigen strategischen Lage gibt, findet man diese weniger Ende der 40er als in den 20er Jahren. In den 20er Jahren zog sich die Nation, im Glauben, dass die große Bedrohung unserer Interessen zusammengebrochen sei und dass sich keinerlei ähnliche Bedrohung zeige, auf sich selbst zurück. Diese Tendenz hatte damals katastrophale Folgen und wäre heute noch gefährlicher […] Ungeachtet der Entstehung neuer Machtzentren bleiben die Vereinigten Staaten der einzige Staat mit einer Streitmacht, einer Bedeutung und einem Einfluss, die in jeglicher – politischer, ökonomischer und militärischer – Hinsicht wirklich globalen Charakter haben […] In den 90er Jahren gibt es, wie in einem Großteil dieses Jahrhunderts, keinerlei Ersatz für die amerikanische Führung.»

Im Februar 1992, die UdSSR ist inzwischen zerfallen, heißt es in dem von Paul D. Wolfowitz, damals Staatssekretär des Pentagon für Politik und heute Vizeverteidigungsminister, und I. Lewis Libby, heute Sicherheitsberater des Vizepräsidenten Dick Cheney, redigierten Defense Planning Guidance: «Unser erstes Ziel ist es, das Entstehen eines neuen Rivalen, ob auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion oder anderswo, zu verhindern, der eine Bedrohung ähnlicher Ordnung wie die frühere Sowjetunion darstellen könnte. Dieser Gedanke bestimmt grundlegend die neue regionale Verteidigungsstrategie, die erfordert, dass wir jegliche feindliche Macht daran hindern, eine Region zu beherrschen, deren Ressourcen, sofern unter ihrer direkten Kontrolle, ausreichen würden, eine neue Großmacht zu werden.» Was heiße, «die hochentwickelten Industrieländer von jedem Versuch abzuhalten, unsere Führungsrolle in Frage zu stellen oder die bestehende politische und wirtschaftliche Ordnung umzustürzen», und «die Mechanismen aufrechtzuerhalten, um möglichen Konkurrenten alle Hoffnung auf eine größere regionale oder globale Rolle zu nehmen». Der Financial Times vom 26.5.92 zufolge wurde das Dokument (durch die New York Times vom 8.3.92) öffentlich gemacht mit doppeltem Zweck: einerseits sollte die Beibehaltung hoher Verteidigungsausgaben zu einem Zeitpunkt gerechtfertigt werden, da aus politischen und sozialen Gründen die Umschichtung dieser Gelder nach dem Kalten Krieg für innere Aufgaben von breiten Kreisen für nötig gehalten wurde; andererseits sollte es eine Warnung sein an Verbündete wie Japan und Deutschland, davor, die Vorherrschaft der USA in Frage zu stellen, und an verschiedene Länder wie Russland und Indien, auf aller Pläne einer regionalen Hegemonie zu verzichten.

In der Anfang der 90er Jahre ausgearbeiteten Konzeption werden alle Staaten oder Staatengruppen als feindlich oder potenziell feindlich betrachtet, die eine Weltmacht werden könnten, sofern sie ein Gebiet kontrollieren, das für Ressourcen von strategischer Bedeutung ist. Unterm Strich wird die Entstehung jeglichen potenziellen Konkurrenten als höchst gefährlich betrachtet und um jeden Preis zu verhindern versucht. Es geht in der US-Strategie nicht darum, ihn direkt zu bekriegen – dies ist nur die äußerste Option –, sondern zu verhindern, dass er wächst, dass er seinen Einfluss auf eine strategische Region festigt und dass er sich als starke Kraft etabliert.

Amerikazentrismus, zwischenkapitalistische Widersprüche und Krieg
Dies unterscheidet die gegenwärtige Situation von der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Konkurrenz zwischen großen kapitalistischen Monopolen sich durch das Vorhandensein von Großmächten, die sich in militärischer Hinsicht die Waage hielten, in der Form des zwischenimperialistischen Krieges äußerte. Die politisch-militärische Lage der Nach-Kalte-Kriegs-Ära dagegen ist gekennzeichnet durch die Existenz eines einzigen übermächtigen Pols, die Vereinigten Staaten, die in den internationalen Beziehungen bewusst das volle Gewicht ihres Militärarsenals und ihrer ökonomischen Macht zur Geltung bringen, um ihr Primat aufrecht zu erhalten. Daher wird auch die heftigste Konkurrenz zwischen großen multinationalen Monopolen zur Zeit nicht die Form der zwischenimperialistischen Kriege des frühen 20. Jahrhunderts annehmen, von Kriegen zwischen entgegengesetzten Staatengruppen, sondern führt zu einem Krieg neuen, nicht sofort zu entschlüsselnden Typs.

Ein Krieg (wie die beiden letzten Kriege übermächtiger internationaler Koalitionen gegen kleine und schwache Länder wie den Irak und Jugoslawien), der von der Supermacht USA nicht nur geführt wird, um die energetischen Ressourcen und strategischen Kommunikationswege unter ihrer Kontrolle zu halten, sondern vor allem, um (ungeachtet aller «Stabilitätspakte» beispielsweise auf dem Balkan) die Stabilisierung einer Region zu Gunsten eines Konkurrenten (der EU) zu verhindern, der, obzwar militärisch eng verbündet, in der Perspektive selbst als mögliche Weltmacht zum Feind wird.

Europa ist für die USA nur von Nutzen, solange es in untergeordneter Position bleibt, sich nicht selbst als politische Macht konstituiert. Die US-Strategie zielt darauf ab, jene Gebiete, die zur Quelle des Wachstums des europäischen Imperialismus werden könnten, zu destabilisieren oder, was dasselbe ist, instabil zu halten. Das Geschehen auf dem Balkan nach 1999 kann als eine definitive Bestätigung dieser Strategie verstanden werden. Die mazedonische UCK wurde dank der Präsenz von US-Truppen im Kosovo geschaffen, und der kleine Balkanstaat, bis dahin frei davon, sah sich plötzlich mit Krieg im Haus und der möglichen Zerstückelung des Landes konfrontiert. Und ist es etwa Zufall, dass lediglich die europäischen Regierungen, nicht aber die USA Truppen entsenden – obwohl im NATO-Kontext! –, um die Kontrolle über dieses Gebiet wieder zu festigen? 

Wenn der Amerikazentrismus, der aus den Dokumenten des Pentagon spricht, der Kompass ist, an dem sich die Globalstrategie der USA orientiert, muss man die nötigen Folgerungen daraus ziehen. Der Griff zum Krieg – zum Krieg neuen Typs, zum Krieg mittels Dritter, zum Krieg unter Beteiligung der Verbündeten (die jedoch potenzielle Attentäter gegen das amerikanische Primat sind), um deren Macht und Zusammenhalt zu schwächen bzw. zu behindern – wird immer häufiger, wird lebensnotwendig für die USA werden. Und dies aus zwei begreiflichen Gründen:

1. Der amerikanische Primat seit den 90er Jahren stützt sich wesentlich auf die militärische Übermacht, auf den Umstand, auf diesem Gebiet kein Gegengewicht von Bedeutung mehr zu haben. Auf wirtschaftlichem Gebiet dagegen ist es, ungeachtet des «Wunders» unter der Präsidentschaft Clintons, durchaus möglich, dass die USA von der Europäischen Union überholt werden und dass die europäische Einheitswährung die Weltherrschaft des Dollars antastet.

Seit einigen Monaten bereits geistert das Gespenst der Rezession durch die amerikanische Wirtschaft. Verschiedene Ökonomen haben – noch zur Zeit des Clintonschen Aufschwungs – die strukturellen Aspekte des «Niedergangs der US-Gesellschaft» ans Licht gebracht: er äußere sich in «ökonomischen Daten wie der langfristigen Verlangsamung der Wachstumsrate des BIP und der Arbeitsproduktivität, der tendenziellen Verringerung des Anteils der Investitionen am BIP, der exzessiven Tertiarisierung des ökonomischen Systems, dem fast völligen Erliegen des individuellen Sparens, dem chronischen und wachsenden Handelsdefizit, dem Wachstum der öffentlichen Verschuldung, der Ausdehnung spekulativer Finanzgeschäfte. Darüber hinaus verbreiten sich weiter gesellschaftliche und kulturelle Erscheinungen wie die steigende Zahl Armer, die Konzentration des Reichtums und eine hohe tatsächliche Arbeitslosigkeit, zusammen mit prekären Beschäftigungsverhältnissen und Kriminalisierung der Unterschichten.»

Um den amerikanischen Primat aufrechtzuerhalten, wird es deshalb zu einer Frage auf Leben und Tod, die Verbündeten und potenziellen Konkurrenten auf das Gebiet zu ziehen, auf dem dieser Primat noch unumstritten ist und sich in seiner ganzen Macht zeigen kann: den Krieg. Wenn die USA die Strategie des Primats verfolgen wollen, können sie gar nicht anders als Krieg zu produzieren, also die vorhandenen Konflikte in Gebieten von strategischer Bedeutung für Primärstoffe, Kommunikationswege, Märkte aufrecht zu erhalten und zu fördern bzw. solche künstlich zu provozieren, um sich dort im geeigneten Moment einschalten zu können.

2. Doch die USA produzieren Krieg auch im herkömmlichen Sinn des Worts: sie sind der weltweit führende Produzent von Rüstungsgütern, verfügen über den größten militärisch-industriellen Komplex der Welt. Noch vor dem Blutbad der «zwei Türme», das dazu dienen wird, den Haushalt des Pentagon exponentiell zu steigern, machte sich Bush für dessen Erhöhung auf 320 Milliarden Dollar jährlich stark – eine Zahl, die über den Militärausgaben sämtlicher potenzieller «Gegner» der Vereinigten Staaten liegt –, und dies in einer Zeit, da die öffentlichen Ausgaben und insbesondere die sozialen Ausgaben drastisch gekürzt werden. 

Der militärisch-industrielle Komplex der USA, der sich aus den immer höheren Geldern des Verteidigungshaushalts speist, ist ein grundlegender und unverzichtbarer Bestandteil der US-Wirtschaft, und er ist dies umso mehr, je deutlicher die Krise wird – mit sinkender Binnennachfrage und dem Schrumpfen der Außenmärkte (wo überdies die amerikanischen Waren wegen des Rückgangs der Produktivitätsindizes weniger konkurrenzfähig sind). Das Bush und Rumsfeld so teure Raketenschildprojekt dient sowohl dem amerikanischen Primat wie dem Profit der amerikanischen Luft- und Raumfahrtindustrie, welche die europäischen NATO-Partner in untergeordneter Funktion alimentieren sollen, gegen ein paar Aufträge für ihre eigene Industrie. Die Analysten und Börsenmakler der Wall Street hoffen und sagen ohne Umschweife und Scham: der Krieg kann als Schwungrad für einen Ausweg aus der Krise und die wirtschaftliche Erholung dienen. Die Wertpapiere, die sich an der amerikanischen Börse halten oder steigen, sind mit der Rüstungsproduktion verbunden.

In einem staatlichen Kriegskapitalismus wird – ungeachtet all der liberalistischen Illusionisten – ein mögliches Mittel gegen das ungelöste Problem der Überproduktionskrise gesehen, wie das schon einmal in der Großen Krise von 1929 der Fall war, die letztlich nicht mit dem Rooseveltschen New Deal, sondern mit dem Kriegseintritt der USA beendet wurde, mit dem in diesen letzten Tagen und Monaten so oft in Erinnerung gerufenen Pearl Harbour. 

Der Krieg von Bush jr.
Die staatlichen Hebel einsetzen, den Anteil der Verteidigungsausgaben am Staatshaushalt weiter erhöhen – wenn das auch den Rüstungslobbyisten gefällt, die mit zig Millionen Dollar die Wahl von Bush jr. gesponsert haben, so ist es doch keine Sache, die leicht und schmerzlos zu machen wäre; und sei's nur deshalb, weil damit staatliche Ressourcen und Gelder anderen Lobbys anderer Sektoren entzogen werden.

Deshalb muss ein interner Konsens über die Entscheidungen des Präsidenten hergestellt, müssen diese als Priorität, als absolute Priorität empfunden werden. Und es muss also der Mechanismus zur Herstellung von Konsens in Gang gesetzt werden. Deshalb taucht Pearl Harbour erneut auf der Bühne der Massenmedien auf. Die amerikanische Filmindustrie ist bekanntlich sehr sensibel für die Empfehlungen der Macht, in fast prophetischer Weise. Der gute Soldat Ryan, der Befreier Europas von den Nazis, bereitete die öffentliche Meinung auf den NATO-Feldzug gegen Serbien vor: organisierte dort nicht etwa Hitlerovic den Völkermord an den albanischen Kosovaren, den Juden des ausgehenden Jahrtausends? Pearl Harbour wird ausdrücklich bemüht in den Diskursen von Rumsfeld, dem Paladin des Raketenschilds; er «leitete den ‹zweiten Kalten Krieg› der Jahre 1975-1989, strich das Wort ‹Entspannung› aus dem offiziellen Vokabular und rührte in den Achtzigerjahren die Werbetrommel für den ‹Krieg der Sterne›». In seinem am 11. Januar 2001 veröffentlichten Bericht «spricht von einer ‹wachsenden Gefährdung der Vereinigten Staaten› durch ein künftiges ‹Weltraum-Pearl Harbor› und empfiehlt als Abhilfe, ‹dem Präsidenten die Option an die Hand zu geben, Waffen im Weltraum zu stationieren, um mögliche Bedrohungen abzuschrecken und die amerikanischen Interessen nötigenfalls gegen Angriffe verteidigen zu können›». Und wer sind die Feinde? Die Rumsfeld-Kommission betont – im Januar 2001! –, «die Bedrohung gehe von ‹Leuten wie Ussama Bin Laden aus, die eventuell Satellitenkapazitäten erwerben könnten›». 

Doch die Predigten der prophetischen Rumsfeld-Kommission (eine Prophezeiung, deren Erfüllung man organisiert?) reichten offenkundig nicht aus. «Vielleicht ist es nur Zufall, aber nur wenige Tage vor dem Attentat, am 8. September, hatte die Senatskommission für die Streitkräfte deren Haushalt um 1,3 Milliarden Dollar gekürzt.» 

Allerdings hat die Berufung auf Pearl Harbour etwas Düsteres und Beunruhigendes an sich: Die patriotische Erbauungsgeschichte erzählt von dem verräterischen japanischen Angriff, der die amerikanische Flotte völlig unvorbereitet getroffen hätte, und von dem darauf folgenden großartigen Beweis des Patriotismus, den die amerikanische Nation abzulegen wusste, indem sie wie ein Mann antwortete. Geschichtswissenschaftliche Darstellungen jedoch machen darauf aufmerksam, dass der amerikanische Präsident Roosevelt und etliche hohe Befehlshaber von der Sache vorab informiert waren und ihr ihren Lauf ließen, um die Zustimmung der Bevölkerung zum Krieg zu erhalten.

Beim gegenwärtigen Nachrichtenstand wissen wir nicht – und vielleicht werden wir es nie erfahren –, wie die Dinge bei diesen schrecklichen Anschlägen des 11. September in New York und Washington tatsächlich gelaufen sind. Der obskuren Dinge und Fragen sind viele. Es erscheint äußerst seltsam, dass der gesamte innere und internationale Sicherheitsapparat so unaufmerksam und nachlässig gewesen sein soll. Und dies ungeachtet vorangegangener, auch sehr präziser und detaillierter Hinweise. Hinzu kommen vor allem die Beziehungen zwischen dem hauptsächlich der Anschläge Beschuldigten, dem von dem Propheten Rumsfeld schon benannten Osmana bin Laden, und den amerikanischen Diensten, und zwar nicht nur in den 80er Jahren, zur Zeit des Kriegs der Taleban gegen die Sowjets und die afghanischen Kommunisten, sondern auch später. Und vieles andere mehr.

Jedenfalls, unabhängig von der Feststellung der Wahrheit – an der der amerikanischen Polizei so viel nicht gelegen zu sein scheint, die, so ineffizient und zerstreut sie zuvor war, dann superschnell binnen 48 Stunden die Auftraggeber, die unmittelbaren Täter und ihre Komplizen ausmachte –, außerordentlich beunruhigend ist die Reaktion des amerikanischen Establishments: es kündigt nicht nur einen harten, heftigen Rachekrieg an, sondern einen permanenten, globalen Präventivkrieg, einen räumlich und zeitlich unbegrenzten Krieg, der erst mit der totalen Vernichtung des Terrorismus – und das heißt potenziell: nie – enden wird. Die vorangegangenen Kriege zur Durchsetzung der neuen Weltordnung – die nicht erklärten Kriege, die Kriege, die sich nicht Kriege nannten – verfolgten zeitlich und räumlich begrenzte Ziele, waren gegen ein bestimmtes Land gerichtet, bezeichneten den jeweiligen Verbrecher (Saddam, Milosevic); unter dem Schild der eingestürzten Türme und des spektakulären Schreckens jedoch, den die Anschläge verursacht haben, erklären die USA jetzt den permanenten Kriegszustand außer- und innerhalb der amerikanischen Grenzen.

Und wenn die Verschärfung des repressiven Drucks gegen die möglichen «Helfer des Feinds» – oder gegen die Widerstands- und Oppositionsbewegungen, die als Antwort auf die Entlassungen und die Verelendung infolge der Krise stärker werden könnten – auch Zustimmung bei allen herrschenden kapitalistischen Gruppen finden mag, so muss die Perspektive eines permanenten Krieges, bei dem die amerikanische Regierung von mal zu mal – entsprechend ihrer «nationalen Interessen», und das heißt der Aufrechterhaltung des Primats der USA – über Ziele und Formen des Eingreifens entscheidet und dabei ihre NATO-Verbündeten in gänzlich subalterner Weise mit hineinzieht, die führenden europäischen Politiker nicht wenig beunruhigen. Sie vermeiden denn auch sorgfältig, angefangen bei Prodi, bei allem öffentlich bekundeten Abscheu über die feige Tat, von einer Kriegshandlung zu sprechen. Und der Disput über die Worte bekommt so sein politisches Gewicht. Die Erklärung des permanenten Kriegszustands stellt einen qualitativen Sprung dar, einen Wendepunkt in der Verfassung der amerikazentrischen Weltordnung. Der Anschlag von New York hat dazu gedient, eine Tendenz, die der in den frühen 90er Jahren beschlossenen US-Strategie bereits innewohnte, zu beflügeln und zu beschleunigen. Und es ist diese durch das Attentat (erwünschtermaßen?) begünstigte Beschleunigung, was besonders beunruhigt. Denn da ist einerseits das Gespenst der Rezession und der Krise; und andrerseits das Wachstum von Zonen, die den amerikanischen Primat gefährden können – und mit denen abzurechnen, ehe sie zu sehr wachsen, ehe es zu spät ist, die Versuchung groß sein könnte. Solche Zonen sind Europa und Asien, genauer gesagt: China, das seit 1978 ein mittleres Wirtschaftswachstum von 8 % pro Jahr aufwies und, während es zu Beginn der 90er Jahre noch teilweise vernachlässigt wurde, in der Wahlkampagne von Bush jr. als «strategischer Gegner», vom Präsidenten Bush dann als «strategischer Konkurrent» bezeichnet wird.

Das Szenario, das sich im Lauf einer Woche abgezeichnet hat, ist – zunächst – das eines Kriegs gegen Afghanistan, für den bin Laden wahrscheinlich nur den Vorwand bildet. Afghanistan ist aus verschiedenen Gründen hinsichtlich seiner strategischen Lage vergleichbar mit dem Balkan. Es geht dabei nicht nur um die nicht zu vernachlässigenden Interessen der US-Multis am Öl, Erdgas und Pipelines, auch nicht nur um Uran. Afghanistan ist aufgrund seiner Lage von erheblicher geostrategischer Bedeutung für den Zugang zu Zentralasien, ein Gebiet, in dem die USA noch nie vertreten waren und in das sie nun anscheinend vordringen wollen, auch um den Preis eines harten und blutigen Krieges.

All dies berührt Interessen von einer Bedeutung, an der gemessen die Frage der Kontrolle über den Balkan ziemlich unbedeutend erscheint; es kann sein, dass damit eine Periode unvorstellbarer Erschütterungen und Kriege eröffnet wird.

Doch der amerikanische Primat steht auf dem Spiel, und es geht darum, die Ressourcen und das Herz Eurasiens zu kontrollieren – oder zumindest zu verhindern, dass andere sie kontrollieren; und wenn man diesen Kontinent beherrscht, so beherrscht man, den Klassikern der Geopolitik zufolge, die Welt und gewinnt die Partei auf dem großen Schachbrett. [Eigene Anmerkung, siehe BRZEZINSKIS "EURASISCHER BALKAN"]

Ein Schachspiel, bei dem man auch zwei Türme opfern kann.
 

Entnommen der Zweimonatszeitschrift «l'Ernesto. Rivista comunista» 4/2001. Aus dem Italienischen übersetzt von Hermann Kopp. Leicht gekürzt.

Aus den "Marxistischen Blättern" 6/2001. Die MB erscheinen 6 mal im Jahr. Neue Impulse Verlag.