Das Kreditkartenhaus

Text: Gerhard Waldherr

Nirgendwo ist die Kreditkarte so allgegenwärtig wie in den USA. Das Land und sein Leben basieren auf einem Haufen bunter Karten mit großen Versprechungen. Die große Kunst des schnellen Schuldenmachens wird von den Kreditkarten-Konzernen mit allen Tricks und Mitteln unterstützt. Das Ende ist oft bitter: viele Schulden und zerbrochene Existenzen. 
 

----- Wie der amerikanische Traum aussieht? Am besten Marilyn fragen. Sie hat laut Guinness Buch der Rekorde den höchsten jemals gemessenen IQ und zerschlägt in ihrer Kolumne „Ask Marilyn“, die in hunderten von US-Tageszeitungen erscheint, von Berufs wegen gordische Knoten. Marilyn vos Savant sagt: „Der amerikanische Traum umfasst heute ein Haus in der Vorstadt mit einer Allee davor und einem Garten dahinter, eine Veranda für Barbecues, Campingausflüge, Angeltouren, zwei Autos, schlaue, folgsame Kinder und Internetanschluss.“
     Eine gute Antwort. Aber was ist mit den vier Fernsehern, drei Computern, zwei Mobiltelefonen, Videospielen für die Kids, Restaurantbesuchen, Kinoabenden, Shopping am Wochenende und dem Kurztrip auf die Bahamas? Was ist mit dem Diamantring zum Hochzeitstag, dem Klavier für die Tochter, den Baseball-Tickets für den Sohn, der privaten College-Ausbildung für beide, der neuen Polstergarnitur alle zwei Jahre? Und was ist, wenn der Nachbar plötzlich den größeren Chevy Suburban fährt?
     Amerika glaubt an Freiheit und Individualismus, an zweite Chancen und daran, dass es dort allen besser geht als anderswo. Hier kann jeder alles haben, und deshalb glaubt Amerika vor allem an Konsum. Lendol Calder sagt: „In dieser Kultur ist der ideale Mann, die ideale Frau ein Konsument. Und beim Konsumieren fühlen sie sich lebendiger und menschlicher als am Arbeitsplatz, im Gebet, auf einem Berg oder bei einem Akt der Nächstenliebe.“ Calder hat das Buch „Financing the American Dream – A Cultural History of Consumer Credit“ geschrieben und meint: „Der amerikanische Traum ist ein Paradox, das so tief in das alltägliche Leben dieses Landes eingegraben ist, dass eines völlig übersehen wird: Er ist fabelhaft teuer und dennoch erschwinglich für jedermann.“ Wie? Mit Kredit und mehr noch Kreditkarten.

Was mit verlockenden Angeboten beginnt, endete in den USA im vergangenen Jahr 1,4 Millionen Mal in der privaten Pleite. 

So fing alles an bei Michael und Cynthia P., beide Ende 20 und beschäftigt bei der Gefängnisverwaltung in Huntsville, Texas. »Money Magazine« hat ihren Fall exemplarisch nacherzählt. Das Ehepaar P. verdiente zusammen 40000 Dollar im Jahr und finanzierte mit insgesamt 60 Kreditkarten derart ungehemmt seine Wünsche und Michaels Fortbildung, dass es nach drei Jahren nicht mehr in der Lage war, die monatlich geforderten Mindestbeträge mit dem gemeinsamen Einkommen zu bestreiten. Am Ende standen 34500 Dollar Ausstände zu Buche, und Michael sagt heute: „Wir wollten alles und möglichst sofort. Dabei haben wir das Geld, das wir noch gar nicht verdient hatten, ausgegeben für Dinge, die wir längst benutzt hatten.“ Endstation Konkursrichter. Keineswegs ein tragisches Einzelschicksal.
     1,4 Millionen Pleiten von Privatleuten wurden in den USA vergangenes Jahr registriert, statistisch gesehen doppelt so viele wie in Kanada, zwölfmal mehr als in Großbritannien. Und die meisten beginnen wie bei Familie P. mit verlockenden Angeboten. Sie kommen meistens per Post, zwei- bis dreimal pro Woche. Sie versprechen Kredit von 5000, 10000, sogar 100000 Dollar zum Einführungszins von 1,9 Prozent, freie Flugmeilen, Gratisreisen, sie locken mit Rückzahlungen und Verlosungen für häufige Benutzung, manchmal mit Krimskrams, manchmal mit Pfandbriefen. Was viele dabei ignorieren, ist das Kleingedruckte: bis zu 25 Prozent Zinsen nach der Startphase, Strafgebühren für verspätete Rückzahlung des Mindestbetrages oder Überziehung des Limits, Androhung von Gerichtsverfahren und Pfändung. Wer kapiert schon, dass die Bonusmeile pro ausgegebenen Dollar nur zwei Cents wert ist, aber 2,17 Cents Zinsen kreiert? Und wer denkt schon daran, dass es 47 Jahre dauert, mit den vorgeschriebenen Mindestbeträgen 8000 Dollar abzubezahlen?
     Ein Dollar produziert in diesem Fall drei Dollar Zinsen. Doch wer will das schon wahrhaben?

Kreditkartenregel Nummer eins: Don’t leave home without it – aber wenn du das tust, pass auf dich auf.

Nichts prägt das tägliche Leben in Amerika so sehr wie das kleine bunte Stück Plastik. 1,5 Milliarden sind derzeit im Umlauf, benutzt von 158 Millionen Personen. Sie kommen in normierter Form und allerlei Farben, werden ausgestellt von Firmen wie Visa, Mastercard, American Express und allen Bankunternehmen, aber auch von Großfirmen wie General Electric, Mineralölkonzernen, Großhandelsketten und Kaufhäusern. Kein Hotel lässt sich ohne sie buchen, kein Mietwagen bestellen, kaum ein größerer Einkauf tätigen. Denn Bargeld hat im Land der unbegrenzten Möglichkeiten den Ruch des Bankrotteurs, dem niemand Kredit gewährt. Selbst Kioskbesitzer sind bewaffnet mit braunen Filzstiften, die jede Banknote über 20 Dollar auf ihre Echtheit überprüfen. „Aber haben Sie erst einmal ein oder zwei dieser Plastikdinger, dann sind Sie zum Schuldenmachen nachgerade berechtigt“, schreibt der Psychotherapeut Paul Watzlawick in seinem Bestseller „Gebrauchsanweisung für Amerika“, „die Art und Weise, wie dabei aus nichts etwas (Ihr Kredit) entsteht, ist … sozusagen ein Akt der Urzeugung.“
     Die Kreditkarte entspringt dem Bedürfnis der Amerikaner nach bequemen, schnellen Lösungen und ist überdies Ausdruck ihres Unternehmergeistes. Just do it, formuliert es der Sportartikelhersteller Nike. Just charge it, lautet die abgewandelte Losung, die zahlreiche Kreditkartenfirmen ausgeben in pausenlosen Werbekampagnen, mit 3,5 Milliarden Postwurfsendungen jährlich, 37 pro Haushalt. Fast eine Milliarde verschlingt die Werbeschlacht pro Jahr mittlerweile, niemand entgeht der Berieselung, keiner den Verlockungen. 
     Visa verspricht: „Have it your way with Visa.“ American Express garantiert: „Your key … opens doors for you all over the world.“ Discover lockt mit: „It pays to Discover.“ Eine Einladung zum Geldausgeben ohne Rücksicht auf den nächsten Tag. Im Schnitt hat jeder Amerikaner derzeit 11 575 Dollar Kreditkartenschulden.
     Eric Simons betreut mit seiner New Yorker Firma Simons Financial Network etwa 70 Privatkunden, denen er bei der Planung und noch öfter der Reparatur ihrer Finanzen beisteht. Er sagt: „Mit Geld umgehen bedeutet mathematisch denken, der menschliche Kosmos wird hingegen dominiert von Gefühlen.“ Weshalb, wie Simons meint, die Leute mehr von Fitness und Rosenzucht verstünden als von ihren eigenen Finanzen. „Kredite gibt es seit Menschengedenken“, sagt Simons, „aber hier sind sie längst tägliche Routine, ohne dass sie nachvollziehbar wären. Wir haben keinen Kontakt mehr zu dem, was passiert.“ Das liegt nicht zuletzt am elektronischen Zeitalter, das auch eine amerikanische Erfindung ist. Simons: „Heutzutage können Sie im Internet ein Vermögen ausgeben.“ Bezahlen mit etwas, das nicht da ist im virtuellen Niemandsland. Die perfekte Illusion.
     „Think of it as Money“, fordert Mastercard seine Kunden auf. Denk an die Konsequenzen, steht nicht dabei. Deswegen hat der leitende Redakteur Vince Passaro von »Harper’s Magazine« einen Essay zu Papier gebracht, in dem sich der Satz findet: „Interessant an meiner Art und Weise des Verschuldens war, dass ich keine realistische Vorstellung davon hatte, wie ich das alles jemals wieder abzahlen wollte.“ Passaro hatte über 63000 Dollar Schulden angehäuft, 28000 davon auf Kreditkarten. Das ist insofern bemerkenswert, weil er und seine Frau über ein Jahreseinkommen von 110000 Dollar verfügten. Doch die Schulgebühren für die Töchter, die Dinners in eleganten Lokalen, die Prada-Schuhe für Mrs. Passaro – der Wunsch nach einem gehobenen Lebenswandel war stärker als die Vernunft des hoch begabten Denkers, der kein Sparbuch besaß. Wer hat das in den USA schon? Wozu auch? Passaro: „Amerikaner leben für den Moment, die spirituellen und psychologischen Kosten dieses endlosen Kreislaufs von ständig steigenden Ausgaben sind ihnen nicht bewusst.“

Die meisten Kreditkartenopfer sind keine Shopaholics, keine verrückten Schuldenmacher – sondern biedere Bürger.

1958 betrug die Gesamtverschuldung der US-Bürger 45 Milliarden Dollar, 30 Jahre später 666 Milliarden, und inzwischen sind es 6,5 Billionen. Zwei Drittel davon wurden geborgt für Eigenheime, der nächstgrößere Posten sind Darlehen für Autos. Jeder Amerikaner träumt zunächst von den eigenen vier Wänden und kann ohne seine vier Räder nicht leben. Da das aber schon einen Großteil seines Einkommens verschlingt, liegt Amerikas Obsession für Kreditkarten geradezu auf der Hand. Sie schaffen Abhilfe, wo immer das Verlangen zu konsumieren groß ist. „In einem System, das soziale Verantwortung nie gewollt hat und die Freiheit des Individuums über alles stellt“, sagt Mary Johnson, „hat das dazu geführt, dass 80 Prozent aller Amerikaner inzwischen nur einen Notfall vom wirtschaftlichen Kollaps entfernt sind. Krankheit, Totalschaden, Arbeitslosigkeit – und das Kreditkartenhaus bricht in sich zusammen.“
     Johnson ist Sprecherin des gemeinnützigen Consumer Credit Counseling Service (CCCS) in New Jersey. 1200 Büros betreibt der CCCS in den USA, er stellt Entschuldungsprogramme zusammen und Verbindungen her zu karitativen Organisationen, die Kleidung, Nahrungsmittel und billige Wohnungen anbieten, er vermittelt auch Kinderkrippenplätze, damit Mütter dazuverdienen können. „Am schlimmsten trifft es die Mittelklasse und die unteren Einkommensschichten“, sagt Johnson, „für die geht es nur mit harten Einschnitten.“ Sie hat in ihrem Büro in Cedar Knolls alles vor dem Schreibtisch gehabt: erfolgreiche Geschäftsleute, Priester, Schauspieler, sogar Politiker. Allesamt verantwortungsbewusste Eltern, keineswegs dumm, selten Shopaholics. „Amerikaner können nicht mit Geld umgehen“, sagt Johnson, „denken Sie nur an Donald Trump.“ Der hätte beinahe das vom Vater ererbte Immobilien-Imperium verzockt.

Es ist leicht, ein Kartenlimit von 5000 Dollar zu erreichen – auch dann, wenn man erst drei Jahre alt ist. 

Sicher, Trumps Problem waren nicht Kreditkarten. Auf Leute wie ihn hat es die Branche auch nicht abgesehen. Wer Geld hat, für den ist Plastik eine wunderbare Sache. Bei pünktlicher Rückzahlung in voller Höhe, kommt man zinsfrei davon. Solvente Klienten werden „Deadbeats“ genannt. Penner. 
     Lukrativ sind einzig „Revolver“. Es handelt sich dabei um Menschen, die sich quasi um die eigene Achse drehen, weil sie nie mehr Geld haben, als sie brauchen und dadurch auf hohen Schuldständen sitzen bleiben. Die perfekten Opfer sind mittlere Angestellte, Arbeiter, Beamte, Kleinunternehmer, Senioren und immer häufiger Studenten. Visa und Konsorten mogeln sich mit Spenden in die Hörsäle der Universitäten, ihre Verkaufs-Shows tarnen sie als Crash-Kurse für den vernünftigen Einstieg in die Welt des Geldes. „In Wahrheit ist es verantwortungslos, Jugendliche zu ködern“, meint Johnson. „Sie haben nie gelernt, Finanzen zu managen und bürden sich oft Belastungen auf, die sie ihr ganzes Leben lang begleiten.“ Was man so gesehen von Visa Buxx zu halten hat, der neuesten Kreditkarte für Teenager, muss einem tatsächlich Angst machen.
     Nicht selten bedient sich die Branche noch dreisterer, teils sogar illegaler Methoden. Das Unternehmen Providian wurde unlängt zu 105 Millionen Dollar Schadensersatz verurteilt, weil es schamlos unberechtigte Strafgebühren – 29 Dollar ist die Regel – verhängte und Zinssätze manipulierte. Überhaupt ist das Geschäft von einer Aura aus Skrupellosigkeit und Chaos umgeben. Alessandra Scalise erhielt von der Charter One Bank eine Karte mit 5000 Dollar Limit. Alessandra war zu diesem Zeitpunkt drei Jahre alt. Die Finanzexpertin Terry Savage, oft zu Gast in Talkshows zu diesem Thema, befürchtet angesichts der aufziehenden Rezession in Amerika nun eine weitere Flut von privaten Pleiten: „Der Wohlstand des vergangenen Jahrzehnts beruht auf Kredit, unsere Schulden werden uns irgendwann beerdigen.“ Passaro meint: „Ich kann den Firmen nur viel Glück wünschen. Dass wir überhaupt noch etwas zurückzahlen, wundert mich.“
     Wie? Ganz einfach. Das Spiel heißt „Credit Card Shuffle“. Mit anderen Worten, wie auf einem beliebten Autoaufkleber zu lesen steht: „I pay my Visa with Mastercard.“ Daniel C. war ein Meister im Credit Card Shuffle. Es fing an mit 600 Dollar, als er noch studierte. Er bekam seine erste Kreditkarte ohne Sicherheiten und gegen Vorlage des Studentenausweises, der in jedem Kopierladen hätte gefälscht sein können. Als das Geld ritsch, ratsch verbraucht war, stellte sich Daniel auf magere Zeiten ein. Und wurde für seine Unbedarftheit mit einem neuen Limit belohnt: 5000 Dollar.
     Er benutzte das Geld für seine Ausbildung zum diplomierten Buchhalter, gönnte sich ein paar Vergnügungen, was man so braucht. Man ist schließlich nur einmal jung. Vier Jahre später hatte er fünf Kreditkarten und 15000 Dollar Schulden. „Ich dachte mir“, sagt Daniel, „ich zahle das ab, wenn ich einen Job finde.“ Er fand keinen. Seine Plastiksammlung und seine Ausstände wuchsen auf 20000 Dollar. Längst bezahlte er mit neuen Karten alte Rückstände. Das Karussell dreht sich. Der Berg wächst. Die Karte triumphiert immer. 
     Als Daniel endlich eine Anstellung fand mit 50000 Dollar Jahresgehalt, kaufte er sich ein Apartment. „Ich betrachtete es als lukratives Investment, die Zinsen für das Darlehen konnte ich von der Steuer absetzen.“ Er erwarb ein Auto auf Kredit. Ein Träumer auch er. Kassensturz: 30000 Dollar minus. „Am Schluss konnte ich mit meinem Gehalt nur noch die Kosten für die Wohnung und die Mindestbeträge der Kreditkarten bezahlen. Für den Supermarkt, das Kino, an der Tankstelle benutzte ich Kreditkarten.“ Die logische Folge: Konkurs, Apartment weg, Auto weg, alles weg. 
     Daniel hat während dieses ganzen Schlamassels gearbeitet, er hat auch jetzt wieder einen passabel dotierten Job und will erneut Kreditkarten beantragen, wenn der Vermerk über seinen Finanz-Crash nach sieben Jahren aus dem Credit Report getilgt ist. Den Kollegen hat er nichts davon erzählt: „Ich will nicht, dass jemand glaubt, ich sei nicht vertrauenswürdig oder Geldprobleme würden meine Arbeit beeinflussen.“

Amerikanische Kreditkarten-Logik: Die Bank verweigert die Ausstellung einer Karte, weil das Konto nicht im Minus ist.

Als ich im Oktober 1996 nach Amerika zog, war es mir anfangs nicht möglich, eine Kreditkarte zu bekommen. Mein Name war auf dem Credit Report nicht verzeichnet, ich hatte keine Credit History. Meine Bank weigerte sich trotz einer Bareinlage von 15000 Dollar, mir ihre Karte auszustellen. Anträge, deren Formulare jeder Zeitschrift beiliegen, wurden stets mit der grotesken Begründung auf den fehlenden Nachweis von Verschuldung in Amerika abgelehnt. Mein erstes Plastik amerikanischer Prägung kam von Providian. Deren Werbeslogan: „No Credit, bad credit, no problem“. 300 Dollar Limit, 24,99 Prozent Zinsen plus monatlich sieben Dollar Pflichtversicherung, falls ich zahlungsunfähig werden sollte. Nach meinen ersten drei vollständigen Rückzahlungen, erhielt ich innerhalb der nächsten zwei Monate 17 Kreditkartenangebote. Ich nahm einige an, wenngleich ich die Offerte von First USA ausschlug, ein Foto meines Haustieres in die Karte einarbeiten zu lassen.

Kreditkartenunternehmen und ihre Schuldner – wer nichts mehr hat, wird mit Schecks gefüttert.

Neulich klingelte das Telefon. Dran war ein gewisser Randy von Integrated Credit Solutions in Florida und bot mir Hilfe an, da ich „zu den vielen Amerikanern gehöre, die eine harte Zeit haben, ihre Rechnungen zu bezahlen“. Randy eröffnete mir, dass die ausstehenden Beträge auf meinen US-Karten das Guthaben auf meinem New Yorker Bankkonto um 4000 Dollar überstiegen, ich über keine Ersparnisse, kein Haus, kein Auto und damit keine Sicherheiten verfüge. Woher er das wüsste? „Wir haben Ihre Daten wohl gekauft, vielleicht auch von Ihren Kreditkartenfirmen bekommen, keine Ahnung.“ Von meinem Bankkonto, Sparbuch, Aktienportfolio und meiner Lebensversicherung in Deutschland konnte Randy natürlich nichts wissen. Er sagte: „Sie passen in das Muster unserer Fälle.“ Ich sagte, er solle am nächsten Tag wieder anrufen. 
     Auf der Website der Firma fanden sich keine brauchbaren Hinweise, was sich hinter dem Unternehmen verbirgt und mit wem es kooperiert.
     Ein Bankgeheimnis wie in europäischen Ländern gibt es in den USA nicht. Zugang zum Credit Report, einer Auflistung von Schulden, Zahlungsgewohnheiten, Konkursen, Offenbarungseiden und dergleichen, hat praktisch jeder, der sich für die finanzielle Situation eines x-beliebigen US-Bürgers interessiert: Arbeitgeber, Vermieter, Banken, Behörden, Geschäftspartner. Randy bot mir anderntags einen Kredit über 10000 Dollar an, rückzahlbar in sechs Jahren, mit dem ich meine Ausstände tilgen und „ganz von vorn anfangen“ könne. Integrated Credit Solutions arbeite mit den Ausstellern meiner Kreditkarten zusammen und habe bereits deren Einverständnis eingeholt. Der Zinssatz lag bei knapp über zwölf Prozent, sechs Prozent unter dem durchschnittlichen Zinssatz meiner Kreditkarten und deutlich über dem gängigen Zinssatz der Banken. „Ich bin stolz, hier zu arbeiten“, sagte Randy, „ich rette lieber das Leben von Menschen, als es zu zerstören, wie die Kreditkartenfirmen es machen.“
     Randys Anruf machte Sinn. In den Augen meiner Kreditkartenfirmen war ich ein Problemfall geworden, einen Verdienstausfall, kostspieligen Krankenhausaufenthalt oder eine unüberlegte Anschaffung vom Pleitegeier entfernt. Man wollte mich loswerden. Was weniger Sinn machte, war die Post, die in den folgenden zwei Wochen in meinem Briefkasten lag. Ein Angebot für eine Delta Sky Miles Gold Card von American Express, obwohl ich bereits selbige, allerdings in Platinum, besitze; eine Gold AAdvantage World Mastercard der Citibank, obwohl ich exakt dieselbe schon habe und mir für diese von der Citibank gleichzeitig ein Gutschein über zehn Dollar zuging; dieser würde bei Einlösung eine Versicherung gegen Liquiditätsprobleme nach sich ziehen. Dazu erhielt ich Antragsformulare für eine Business Card von Mastercard, bis zu 100000 Dollar Limit, Zinssatz je nach Höhe zwischen 9,99 und 24,99 Prozent; und Discover lud mich ein, die Privilegien seiner Gold Card zu testen.
     Überraschende Vertrauensbeweise für einen Problemfall. Doch damit nicht genug. Die Household Bank schickte einen Scheck über 5000,31 Dollar, rückzahlbar in 60 Monatsraten, insgesamt 7858,80 Dollar. Als ich dort anrief und fragte, wie ich denn dazu käme, sagte eine nette Dame: „Sie sind uns als verantwortungsvoller Schuldner empfohlen worden.“ Eine charmante Lüge. Wenig später erreichte mich ein Scheck von H.C.G. Financial Services in Höhe von 29500 Dollar, wofür ich mir bei einem Autohändler in New Jersey einen Toyota hätte kaufen können, monatliche Belastung 600 Dollar. Johnson: „Es ist, als gäbe man einem Alkoholiker eine Flasche und sagte: ,Betrinke dich nicht‘.“ Terry Savage sagt: „Kreditkartenschulden bringen einen um, es ist die bittere Wahrheit.“ 
     Erst kürzlich hat ein Mann in einem Postamt in New Jersey mehrere Menschen und dann sich selbst erschossen, weil er seinen Job als Briefträger wegen persönlicher Finanzprobleme verloren hatte.

Kreditkarten können ihre Beziehung verändern – money can’t buy you love – aber Kreditkarten möglicherweise schon.

Das ist er also, der amerikanische Traum. Geborgt, gepumpt, geliehen. Ein endloses Konsumfestival bis zum bösen Erwachen. Eric Simons erzählt: „Als ich 21 war, dachte ich, ich werde Millionär, das Glück liegt nur um die Ecke.“ Auch er ist ein Opfer des Wohlstandswahns Amerikas. Als seine erste Firma Pleite machte und er wegen ausstehender Kreditkartenschulden vor dem Nichts stand, verließ ihn seine Frau. „Sie sagte, weil ich ihr meine Vermögensverhältnisse nicht korrekt offenbart hätte, sei die Grundlage unserer Ehe nicht mehr gegeben.“ Er hat nie wieder geheiratet. Simons: „Heute weiß ich, wahrer Reichtum bemisst sich nicht in Dollars und Dingen.“ 
     Zwischen den Kontaktanzeigen des »Washington City Paper« fand sich vor einiger Zeit eine Annonce. Sie war von einer Kreditkartenfirma. Der Text: „Money can’t buy you love, but a Credit Card can get you started.“ -----| 
 

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