Macht und Ideologie in Europa: Wie die EU regiert wird

Die Europäer haben eine Regierung, die sie kaum kennen, die sie nicht gewählt haben und die sie nicht mögen. Diese Regierung sitzt in Brüssel und bestimmt das Schicksal von 370 Millionen Menschen in Europa. Wie wird diese EU eigentlich verwaltet und regiert? Wer hat die Macht, wer zieht die Fäden? Welche Ideologie steht dahinter? Wie waren die rechtswidrigen Sanktionen gegen Österreich überhaupt möglich? Brisante Fragen, die DeutschlandBrief-Herausgeber Bandulet am 19. Juli auf einem Vortrag in Zürich vor 500 Zuhörern aus allen Teilen der Schweiz, aus Deutschland, Österreich und Irland beantwortete. Eingeladen hatte der europäische Arbeitskreis Mut zur Ethik. Im folgenden lesen Sie die leicht gekürzte Abschrift des Vortrags. 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin ein überzeugter Europäer, war das immer gewesen, aber ich wehre mich vehement dagegen, daß die EU mit Europa gleichgesetzt wird. Als wir in die Schule gingen – in den 50er und 60er Jahren – waren wir begeistert für Europa. Wir waren begeistert, weil die europäische Idee für uns die Garantie bot, daß sich die schrecklichen Bürgerkriege unseres Kontinents nicht wiederholen würden. Und auch, weil wir in Europa ein Bollwerk der Freiheit gegen den Kommunismus gesehen haben. Es ist tatsächlich so, daß die Europäer rund 80% ihrer Wertvorstellungen gemeinsam teilen. Lediglich die 20% sind nationale Eigenheiten. Aber heute muß ich mich wirklich fragen, ob die EU, so wie sie sich entwickelt hat, nicht ein Risiko für die Freiheit darstellt. Es hat eine Metamorphose stattgefunden. Eine umgekehrte Metamorphose, und zwar vom Schmetterling zur Raupe. Wie kam diese zustande? Warum hat sich Europa, warum hat sich die EU so entwickelt? 

In den 50er und 60er Jahren, eigentlich bis in die 80er Jahre hinein, war die EWG, wie sie damals hieß, und dann die EG eine Wirtschaftsgemeinschaft, die Beachtliches leistete. Zunächst entwickelte sich eine Freihandelszone, die Zollschranken fielen, später wurde der freie Kapitalverkehr eingeführt und der Binnenmarkt realisiert. Das waren eine ganze Reihe von Maßnahmen, die Westeuropa im Grunde auf den Stand zurückgeführt haben, der bereits im 19. Jahrhundert bestand. Denn auch im späteren Teil des 19. Jahrhunderts wurde in Europa frei gehandelt, gab es einen freien Kapitalverkehr, was oft vergessen wird. 
 

Von 9,5 auf 200 Milliarden 

Dann aber, nach und nach, wuchs die Bürokratie in Brüssel, der Haushalt wurde immer größer. 1970 bestand der EG-Haushalt nur aus 9,5 Milliarden Mark, heute sind es rund 200 Milliarden Mark. Das alles wurde immer bürokratischer, und mit der Bürokratie und den Subventionen wuchs natürlich auch die Korruption. Die Europäische Gemeinschaft hat genau die Entwicklung genommen, die Ludwig Erhard in seinem Klassiker «Wohlstand für alle» vorhergesagt hat. Er hat dieser Brüsseler Bürokratie schon damals mißtraut. Und er hat bis hin zur Einheitswährung vor diesen Entwicklungen gewarnt. Heute würde Ludwig Erhard natürlich als Anti-Europäer gelten, obwohl er der bessere Europäer war. 

Was ich damit sagen will, ist, daß sich diese Europäische Gemeinschaft zu einem Gebilde entwickelt hat, das tendenziell freiheitsfeindlich ist. Diese Entwicklung hat eigentlich erst erkennbar eingesetzt nach dem Ende des Kalten Krieges. Das ist paradox, denn das Ende des Kalten Krieges bedeutete ja auch den Bankrott des Sozialismus, und zwar für jeden sichtbar. Und auf eine ganz eigenartige Weise ist es nicht gelungen, den Sozialismus zu beerdigen, nachdem er gescheitert war. Er wurde sozusagen durch die Hintertür wieder hoffähig gemacht. Spötter haben einmal gesagt, das Politbüro sei umgezogen von Moskau nach Brüssel. 

Ich hatte neulich das Vergnügen, eine ganz normale Tagesordnung des Moskauer Politbüros zu lesen und nachzuvollziehen, womit die sich eigentlich befaßt haben. Das war ein zentralisierter Staat von riesigen Ausmaßen. Ich muß ihnen leider sagen, diese Tagesordnung hat sich nicht unähnlich gelesen wie die Tagesordnung der Kommission in Brüssel. 
 

Comeback der Kommunisten 

Daß die EU ihr Gesicht gewandelt hat in den 90er Jahren, hat natürlich auch zu tun mit dem politischen Personal dieser EU. Denn alle politischen Phänomene hängen von den Menschen ab, die dahinterstehen. Sie können beispielsweise keine Marktwirtschaft einführen, wenn sie keine Marktwirtschaftler oder Unternehmer haben. Dies wurde im Falle Rußlands völlig übersehen. Seltsamerweise kamen gerade nach dem Bankrott des Kommunismus in vielen Ländern Westeuropas Politiker an die Macht, die früher Kommunisten gewesen waren. Wir haben noch heute Kommunisten in der Regierung in Paris, wir hatten bis vor kurzem Kommunisten in der Regierung in Rom, wir haben in der Berliner Regierung Ex-Kommunisten oder zumindest ehemalige Fellow-Travellers. 
 

Warum ist das wichtig? 

Ich bestreite niemandem das Recht, sich zu bekehren. Es adelt jemanden, wenn er klüger wird und umdenkt, aber das Problem ist hier, daß bei vielen dieser Leute kein biographischer Bruch sichtbar ist. Wenn jemand sich bekehrt - ich denke an William Schlamm beispielsweise, der vom Kommunisten zum Antikommunisten wurde - dann ist irgendwo ein Bruch sichtbar, ein biographischer Bruch. Denn die Alternative dazu ist, daß er nur aus Opportunitätsgründen nicht mehr Kommunist ist. 
 

Die permanente Revolution 

Nehmen sie den Fall Jospin in Paris. Er machte bis-her den Eindruck eines ganz normalen Jakobiners, also eines egalitären Politikers in der Tradition der Französischen Revolution. Bis herauskam, daß er über 20 Jahre lang Trotzkist war. Das ist nun sehr interessant. Er war noch Trotzkist, als er bereits in die Sozialistische Partei eingetreten war. Er hat sozusagen als U-Boot in der Sozialistischen Partei gewirkt. Als U-Boot für die Trotzkisten. 

Trotzki war der Mann, der in Mexiko von einem Agenten Stalins ermordet wurde. Was ist denn der Kern des Trotzkismus? Der Trotzkismus ist lupenreiner Kommunismus, er postuliert vor allem die permanente Revolution. Wenn Sie genau darüber nachdenken, werden Sie zu dem Schluß kommen, daß dieses Prinzip der permanenten Revolution auch angewandt wird in der EU. Denn die EU hat im Gegensatz beispielsweise zur Nato, keinen Vertrag, der auf Dauer gilt. Die EU-Verträge werden in immer schnellerer Folge geändert. Wenn Sie diese Texte lesen, den Vertrag von Amster-dam, den Vertrag von Maastricht, den Vertrag von Nizza, dann sind es immer nur Änderungen der vorheri-gen Verträge, so daß Sie nie wissen, was insgesamt nun gilt. Niemand schaut mehr durch. Auch die Politiker in Berlin nicht, niemand kennt diese Verträge mehr genau. Die EU begreift sich eben als Prozeß, als permanente Revolution. Das muß man im Hinterkopf behalten. 

Erst seit den 90er Jahren – um das zu wiederholen – hat eine Regierungskonferenz die andere abgelöst, ein Vertrag den anderen. Jeder Vertrag hält nur ein paar Jahre und der nächste soll schon 2004 fertig sein. Das ist allein völkerrechtlich gesehen eine ganz eigenartige Sache. 

Genauso, wie es eigenartig ist, daß diese Verträge gleichzeitig für die Ewigkeit abgeschlossen werden. Das Normale ist ja bei einem völkerrechtlichen Vertrag, daß man eine Dauer von vielleicht 20 Jahren vorsieht und dann eine Verlängerungsmöglichkeit. Aber warum wird das abgeschlossen für alle Ewigkeit? Warum darf man nie mehr aus der EU oder aus dem Euro austreten? Das ist tatsächlich so. Die Verträge sehen keine Austrittsmöglichkeit vor. 
 

Die EU, ein Monstrum 

Ich werde Ihnen jetzt erzählen, wie die EU eigentlich regiert wird – auch auf die Gefahr hin, daß die meisten von Ihnen das schon wissen. Aber es gibt ein paar Feinheiten, die vielleicht noch nicht so bekannt sind. 

Zweitens werde ich untersuchen, welche Ideologie dahinter steht, womit versucht wird, eine Legalität oder Legitimität zu begründen. 

Drittens werden wir kurz anklingen lassen, wie es weitergeht, wie lange das hält, bzw. was dagegen getan werden kann. 

Zunächst also: wie wird die EU regiert? Da ist eine Feststellung ganz wichtig. Die EU ist ein rechtlicher Zwitter, ein juristisches Monstrum, das sehr schwer zu fassen ist. Sie ist nämlich weder ein Staatenbund noch ein Bundesstaat. Und sie wird auch beides in absehbarer Zeit nicht werden. Damit fängt das Problem an. Aber ich habe den Verdacht, daß das absichtlich so konstruiert wurde. 

Es ist, wenn ich es genau formulieren müßte, eine demokratisch nicht legitimierte Rätediktatur. Denn die Entscheidungen in der EU fallen in Komitees, Räten und Kommissionen. Es ist etwas peinlich, daß die Wortwahl an ein nicht mehr existentes System anklingt. 
 

Kein Bundesstaat... 

Warum ist es kein Bundesstaat? Ein europäischer Bundesstaat würde voraussetzen, daß das Volk eine verfassungsgebende Versammlung einberuft, daß es sich eine Verfassung gibt, daß die europäische Regierung selbstverständlich gewählt wird. Damit würde ein neuer Souverän entstehen. Dann hätten wir einen europäischen Bundesstaat. Aber wenn das so wäre, dann gäbe es natürlich auch keine französische und englische Atom-streitkraft mehr, weil diese selbstverständlich dem Bundesstaat gehören müßten. Es wäre auch nicht denkbar, daß Frankreich einen Sitz im Ständigen Sicherheitsrat der UNO haben und immer noch Vorrechte als Siegermacht behalten würde. Auch das müßte natürlich europäisiert werden. 

Von deutscher Seite wurde der Bundesstaat favorisiert. Ob er richtig oder falsch wäre oder durchführbar oder nicht, ist eine ganz andere Frage. Ich glaube nicht, daß dies durchführbar ist, weil ein Bundesstaat, also ein souveräner Staat, in Europa ein Wahlvolk voraussetzt, das sich untereinander verständigen kann, auch sprachlich. Es ist eine traurige Tatsache, daß heute in Deutschland viel weniger Schüler Französisch lernen als 1963, als der Deutsch-Französische Vertrag abgeschlos-sen wurde. Diesen Bundesstaat wird es nicht geben. 
 

...aber auch kein Staatenbund 

Die Alternative wäre ein Staatenbund, was De Gaulle vorschwebte und auch Adenauer. Nur, dieser Staatenbund würde natürlich die gesamte EU-Kommis-sion in Brüssel, die gesamte Bürokratie mit ihren über 20 000 Leuten, den riesigen Haushalt, die ganze ge-meinsame Agrarpolitik überflüssig machen. Denn wenn Sie einen Staatenbund haben, haben Sie völkerrechtlich eine absolut saubere Lösung. Dann bleiben die Staaten souverän, sie arbeiten als souveräne Staaten so eng wie möglich, wo sie es können, zusammen. 

Aber weder die eine noch die andere Lösung wurde gewählt, sondern eben das, was ich als juristisches Monstrum bezeichnet habe. Und am Ende ist der Zustand eben so, daß Europa nicht demokratisch, sondern von Räten, Kommissionen und Komitees regiert wird. 
 

Die EG besteht weiter 

Plötzlich hat die Presse vor einigen Jahren nicht mehr von der EG gesprochen, sondern nur noch von der EU. Ich weiß von einigen Zeitungen, daß diese Anweisung von oben gegeben wurde. Ich kann mir dies eigentlich nur damit erklären, daß der Name EG derart vorbelastet war, denn mit der EG hat man alles Negative assoziiert wie Milchseen und die Tiertransporte und den Subventionsbetrug und all diese Sachen. 

EU klingt besser und größer. Europäische Union klingt wie USA. Aber in Wirklichkeit besteht die EG weiter, sie wurde nie abgeschafft. Es gibt die EG und es gibt die EU. Früher hieß es Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, dann hieß es Europäische Gemeinschaften - es waren nämlich drei: die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die Euratom und die Montanunion, also die Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Diese war übrigens die allererste europäische Gemeinschaft in den 50er Jahren. Sie wurde gegründet, darüber gibt es überhaupt keinen Zweifel, weil Frankreich Deutschland kontrollieren wollte. Damals dachte man, man kontrolliert ein Land über Kohle und Stahl, nicht über Computer und Hochtechnologie. Leider stand am Beginn dieser europäischen Einigung ein negatives Denken. Der eine wollte den anderen kontrollieren. Und auch heute ist noch eine Menge negatives Denken dabei, die Interessen sind sehr unterschiedlich. 

Diese drei Europäischen Gemeinschaften, im Plural, wurden dann umbenannt in EG, also in Europäische Gemeinschaft. 

Und was ist der Unterschied? Ganz einfach: EG ist alles, was mit dem Gemeinschaftsrecht zu tun hat, mit der Bürokratie, mit den zwei Millionen Seiten Blatt Papier, die die Kommission jedes Jahr produziert. Allein das Gemeinschaftsrecht im engeren Sinn, das nun die Osteuropäer Buchstabe für Buchstabe übernehmen müssen, füllt 80 000 Seiten. 

Das ist ja das Problem mit diesem Europa. Ich habe mich mal erkundigt im Bundestag: wenn die dort abstimmen über den Maastrichter Vertrag oder den Vertrag von Nizza, dann lesen sie das nicht vorher. Sie wissen nicht im einzelnen, was drin steht. Und das ist verständlich, weil dafür niemand Zeit hat. Die Frage ist nur, ob diese völlige Unübersichtlichkeit Zufall ist oder Absicht. Die Verwirrung, die Erzeugung von Chaos ist übrigens auch ein Prinzip militärischer Operationen. 
 

Die drei Säulen der EU 

Nach offizieller Darstellung haben EU und EG drei Säulen. Die erste Säule ist die EG mit dem Gemeinschaftsrecht, dem Haushalt, den ganzen Richtlinien und Verordnungen, den Subventionen, usw. Die zweite Säule ist die angestrebte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Die läuft nicht über die Kommission, dafür sind bisher die EU-Regierungen zuständig. Die dritte Säule ist die Justiz- und Einwanderungspolitik, die sehr wichtig werden wird in den nächsten Jahren. 

Wenn nun die EU einen Antrag stellen würde auf Eintritt in die EU, würde sie gar nicht aufgenommen. Warum? Weil die EU nach ihren eigenen Regeln nur demokratische Länder aufnehmen darf. Sie dürfte nicht eintreten. Denn hier wird alles auf den Kopf gestellt, was Sie aus einer normalen Demokratie kennen - nicht nur die Gewaltenteilung. In der EU besteht der Gesetzgeber aus Regierungsvertretern, und die Regierung, das ist die Kommission, besteht aus nicht gewählten Leuten. 

Dann haben wir die Justiz mit dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, der nicht etwa nur bestehendes Recht auslegt, sondern ständig neues Recht schafft. Der gefährlichste und vielleicht wichtigste Grundsatz der EU ist, daß nationales Recht gebrochen wird durch europäisches Recht. Das stand ursprünglich nie in keinem Vertrag. Das begann als Interpretation des Europäischen Gerichtshofes - und fand sich dann erst im Amsterdamer Vertrag. 

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat dem noch 1993 widersprochen und damit gedroht, daß es im Konfliktfalle dem nationalen deutschen Recht den Vorrang einräumen würde. Wenn wir uns die Frage stellen, ob diese EU auch wieder scheitern kann, muß man an das Karlsruher Urteil denken. Das ist ein möglicher Punkt, an dem es wirklich zum großen Konflikt kommen kann: wenn ein Verfassungsgericht, sei es in Deutschland oder anderswo, sich gegen EU-Recht stellt. Das wäre der absolute Konfliktfall. 
 

Im Zentrum: Die Kommission 

Aber zurück zu dieser eigenartigen Gewaltenteilung in Brüssel. Im Zentrum stehen, wie Sie wissen, die 20 Kommissare. Die Anzahl der Kommissare soll übrigens laut Nizza-Vertrag, der ja noch nicht rechtsgültig ist, weil er von Irland abgelehnt wurde, auf bis zu 27 erhöht werden. Bei 27 EU-Mitgliedern hätte dann jedes Land einen Sitz in der Kommission. 

Heute ist es so, daß die großen Länder zwei Kommissare haben, die kleinen Länder einen. Und wenn mehr als 27 Mitglieder eingetreten sind, soll rotiert werden, weil man die Gesamtzahl der Kommissare nicht über 27 ansteigen lassen will. 

Diese Kommissare haben eine enorme Macht, obwohl es keine richtige Regierung ist. Sie haben keine Armee und keine Polizei. Sie besitzen auch keine staatliche Verwaltung, für die man ja viel Personal braucht. Sie erteilen nur die Anweisungen an die Verwaltung in den einzelnen Ländern. Dafür können sie aber enorme Bußgelder verhängen. Sie sind die Hüter der Verträge, wie es offiziell heißt. 

Der zuständige Kommissar für den Wettbewerb ist einer der mächtigsten Männer Europas, das muß man ganz klar sehen. Diese Kommissare tun manchmal gar nichts, dann machen sie am wenigsten Fehler. Z. B. der Kommissar Bangemann, der hatte die Arbeit durch seinen Kabinettschef machen lassen. Bangemann war berüchtigt dafür, nach Danzig zum Segeln zu fahren. Er hat sich übrigens zweimal den Dienstwagen stehlen lassen auf diesen Reisen. 

Aber nicht einmal der Kabinettschef des jeweiligen Kommissars macht die Kleinarbeit, sondern er gibt das, was er vom Kommissar gehört hat, weiter an die jeweilige Generaldirektion. In der Generaldirektion - es gibt mehr Generaldirektoren als Kommissare - wird die Feinarbeit gemacht. Wenn der Kommissar eine neue Verordnung will, sagt er es dem Kabinettschef, der Kabinettschef sagt es dem Generaldirektor, und dessen Leute setzen sich dann hin und produzieren jedes Jahr diese zwei Millionen Seiten. So funktioniert das. 
 

Brüsseler Verordnungen... 

Was kommt alles aus Brüssel? Es sind Verordnungen, aber auch Richtlinien. Das ist sehr wichtig, natürlich auch für die Schweiz. Denn die Verordnung ist die stärkste Form der europäischen Gesetzgebung. Die Verordnung, die aus Brüssel kommt, muß sofort ange-wandt werden in der gesamten EU. Da gibt es keine Diskussion mehr. Die kann auch nicht aufgehoben werden durch eine Volksabstimmung. Selbst Irland hat noch nie eine Verordnung aufgehoben. Bei Nizza war das etwas ganz anderes: Das war ein völkerrechtlicher Vertrag. 

Die Verordnungen werden ohne das übliche parlamentarische Verfahren eingeführt. Weil, vergessen Sie das bitte nicht, das Europäische Parlament nicht das Recht hat, Gesetze einzubringen. Es hat nicht das Recht der Gesetzesinitiative. Und damit fehlt ihm natürlich eine ganz wesentliche Voraussetzung für ein richtiges Parlament. Es ist in das Zustimmungsverfahren eingebunden auf eine sehr komplizierte Art und Weise, die jetzt auszuführen zu weit gehen würde. Aber es kann keine Gesetze initiieren. Und was noch viel schlimmer ist, das Europäische Parlament kann keine Gesetze abschaffen. Was ja viel segensreicher wäre, als neue zu erlassen. Das ist übrigens das Beachtliche bei der neuen italienischen Regierung: sie ist dabei, Gesetze und Verordnungen einfach zu streichen. Das ist ein Novum. 
 

...und Richtlinien 

Nach der Verordnung rangiert die Richtlinie. Und die ist ein bißchen anders. Wenn aus Brüssel eine Richt-linie kommt, dann müssen die nationalen Parlamente diese noch umsetzen in nationales Recht. D.h. dann muß der Bundestag zusammentreten und sich die Richtlinie anschauen und daraus ein Gesetz machen. Dazu ist er verpflichtet. Mir fällt keine Richtlinie ein, die nicht umgesetzt wurde. Allenfalls verschleppte oder verzögerte man deren Umsetzung. Dann kommt jeweils eine Rüge aus Brüssel, daß man sich beeilen möge. 

Und dann gibt es noch die Entscheidungen, Empfehlungen und Stellungnahmen. Jacques Delors, der frühere mächtige Kommissionspräsident, hat einmal gesagt, wenn wir es demokratisch gemacht hätten, wären wir gar nicht so weit gekommen. Er hat auch einmal gesagt, 50% aller Gesetze in der EU kämen aus Brüssel und 80% aller Wirtschaftsgesetze. 

Die Wirtschaftsgesetze sind ja nicht gerade die unwichtigsten. Das heißt im Klartext, daß bei 50 oder 80% der gesamten Gesetzgebung der gewählte Gesetzgeber, nämlich das Parlament in den einzelnen Ländern, ausgeschaltet wurde. Ich frage mich manchmal, ob ich das vielleicht zu pessimistisch sehe oder zu dramatisch. Ich zitiere Ihnen jetzt einen ganz unverdächtigen Kronzeugen. 
 

Ein Ermächtigungsgesetz 

Rolf Lamprecht war 30 Jahre lang Spiegel-Korrespondent in Karlsruhe und hat dort über das Bundesverfassungsgericht berichtet. Er war immer ein erstklassiger Jurist, der politisch keiner besonderen Linie anhing. Rolf Lamprecht hat 1999 in einem Aufsatz ganz genau herausgearbeitet, was hier vor sich geht, und er hat klipp und klar gesagt, daß der Maastrichter Vertrag ein Ermächtigungsgesetz sei. 

Nebenbei bemerkt, das Ganze beruht auf der Unterstellung, daß das Volk zu dumm ist, selbst zu entscheiden. Als jetzt die Abstimmung in Irland war, haben viele Politiker gesagt: "Die haben das nicht verstanden" oder: "das wurde nicht lange genug diskutiert", oder: "das ist nicht rübergekommen". Die Iren wurden hingestellt, als seien sie zu dämlich für ein Referendum. Sie müssen dann eben noch einmal abstimmen. 

Ich bin gespannt, wann das Verfahren auch bei den Bundestagswahlen eingeführt wird, wenn diese nicht richtig ausfallen. Immer wieder dieser Verdacht, daß das Volk dümmer ist als die Politiker. 

Da kann ich nur auf folgendes hinweisen: Die Hitler–Diktatur wurde offiziell etabliert durch das Ermächtigungsgesetz im März 1933. Erst damit war Hitler Diktator. Aber das Ermächtigungsgesetz wurde von Politikern verabschiedet. Das war keine Volksabstimmung! Das wurde verabschiedet von 82% der Parlamentarier im Reichstag. Als die Wähler zum letzten Mal frei abstimmen durften, nämlich im November 1932, erzielte die NsdAP nur 33,5% der Mandate. 

Nebenbei bemerkt, wurden die großen Katastrophen, die über Europa in diesem Jahrhundert hereingebrochen sind, von einer gewissen Schicht von Politikern verantwortet, nicht von den Völkern. 
 

Frankreichs Einfluß 

Wie unabhängig ist die Kommission eigentlich? Offiziell ist sie an Weisungen der Regierungen nicht gebunden. Sie ist freilich sehr stark französisch bestimmt. Der ganze technische Ablauf, die Arbeitssprache und die Art und Weise, wie die Verwaltung aufgebaut ist, atmet den Geist des französischen Systems. Es kommt sogar vor, daß Kabinettchefs oder Generaldirektoren - also ganz, ganz wichtige Leute - gleichzeitig den Vorsitz in einer französischen Regierungskommission in Paris haben. Das ist natürlich eine sehr wirksame Verzahnung von französischen und europäischen Interessen. 
 

Die Macht der Konzerne 

Brüssel wird nicht von Deutschland beherrscht. Vor allem nicht in der Handelspolitik, die ja sehr wichtig ist für Deutschland, den mit Abstand größten Exporteur in Europa. Auch in der Handelspolitik haben sich die Deutschen herausdrängen lassen. 

Besonders gravierend ist der Einfluß der großen Konzerne in Brüssel. Da habe ich bei meinen Recherchen ganz erstaunliche Sachen herausgefunden. Sie müssen sich vorstellen, daß die Kommission außerordentlich wichtig ist für die großen Unternehmen, die in ganz Europa tätig sind, weil in Brüssel die wichtigsten gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden - und nicht mehr in den nationalen Hauptstädten. 

Die Unternehmen stellen der Europäischen Kommission kostenlos Praktikanten zur Verfügung. Und es ist überhaupt nicht ungewöhnlich, daß Brüsseler Gesetze, von denen die Konzerne betroffen sind, durch ihre Leute mitformuliert werden. Das ist eine ganz, ganz enge Verzahnung, und mir sagte ein Mitglied der Kommission einmal überspitzt: "Die Unternehmen schreiben oft die Direktiven selbst, von denen sie dann betroffen sind." 
 

Die Drahtzieher des Round Table 

Ich bin neulich auf eine sehr einflußreiche Organisation gestoßen, den European Round Table of Industrialists. Das ist ein völlig informeller Club in Brüssel, in einem unscheinbaren Gebäude. Dort sind die Spitzen der europäischen Wirtschaft vertreten. Aber nicht als Firma, sondern nur in persona. Darunter der Chef von Nestlé, von Unilever, von Philipps, von Royal Dutch und so weiter. Sie treffen sich regelmäßig und versuchen, die Politik zu formulieren, die die Kommission ausführen soll. Dieser Round Table scheint enorm einflußreich zu sein. Der "Guardian", die liberale englische Zeitung, hat einmal behauptet, die Kommission sei "im eisernen Griff" des Round Table. Übrigens wurde diese geheime Nebenregierung, wie ich sie nennen möchte, schon 1983 gegründet und zwar vom Fiat-Chef Agnelli. 
 

Geheimnisvolles COREPER 

Und dann gibt es noch ein Gremium, das sich ungern der Öffentlichkeit zeigt, dessen Mitglieder aber bekannt sind: das sogenannte COREPER, das Komitee der Ständigen Vertreter. Das sind die Botschafter der Mitgliedsländer in Brüssel. 

Sie müssen sich den Ablauf so vorstellen: Wenn die Minister an einem typischen Montagvormittag aus ihren Hauptstädten in Brüssel einfliegen – der eine unvorbereitet, der andere unausgeschlafen und der dritte verkatert – dann sind sie nicht immer besonders entscheidungsfreudig oder entscheidungsfähig. Dann haken sie oft nur ab, was ihnen von COREPER auf den Tisch gelegt wird. Und dann wird COREPER de facto zum heimlichen Gesetzgeber der EU. 

Das Bedenkliche ist immer wieder die nichtexistente Gewaltenteilung. Wenn die Leute von COREPER zusammensitzen und etwas ausarbeiten, ist nicht selten jemand von der Kommission dabei – ein Hohn auf jede demokratische Gewaltenteilung. Auch wenn jemand die EU für eine wunderbare Sache hält, müßte er doch wenigstens zugeben, daß dies alles wenig mit Demokratie zu tun hat. Ein Luxus, den wir uns leisten sollten, ist der, daß wir nicht auch noch aus dem Kakao trinken, durch den wir gezogen werden. 
 

Vom Rubel zum Ecu 

Was mich immer wieder irritiert, sind die Ähnlichkeiten mit der Sowjetunion. Ich war wirklich überrascht, als ich folgendes Zitat gefunden habe. Der damalige Kommissionspräsident Delors war 1994 in Moskau und sprach mit der russischen Regierung. Und da erzählte ihm der russischen Regierungsvertreter, daß Moskau gerade beschlossen habe, das Rubel-Clearing-System zu beseitigen. Das war ein System für den gesamten Ostblock zur Abwicklung des Handels. Und jetzt hören Sie sich bitte an, was Delors daraufhin gesagt hat. Delors rief aus: "Aber wie konnten Sie so etwas abschaffen, wo wir uns doch von Ihrem System bei der Einführung des Ecu inspirieren liessen. Unser Ecu ist eine europäische Übernahme von dem, was Sie im Comecon taten." 
 

Die Ideologie der EU 

Wir kommen jetzt zu einer etwas schwierigeren Frage, und zwar zu der Frage, welche Ideologie dahintersteht. 

Denn der Mensch legt sich für alles, was er tut, eine Rechtfertigung zu. Auch wenn sie falsch ist. So entstehen Ideologien. Man will ja nicht nur die Macht haben, sondern auch die Moral auf seiner Seite. Und so hat sich die EU in den 90er Jahren eine neue Ideologie zugelegt, die in Umrissen bereits deutlich ist und über die ich Ihnen einiges erzählen möchte. Ich denke, daß erst diese Ideologie sie gefährlich macht. 

Diese Ideologie trat zum ersten Mal aus dem Schatten mit den Sanktionen gegen Österreich. Diese Sanktionen waren übrigens rechtlich gesehen keine EU-Sanktionen, das waren bilaterale Sanktionen, die wurden beschlossen von 14 der 15 Regierungen der EU. Erst der Vertrag von Nizza, der jetzt von Irland abgelehnt wurde, beinhaltet eine sogenannte "Lex Austria" – so heißt es natürlich nicht offiziell – also einen neuen Artikel, der das Procedere für solche Sanktionen genau festlegt. Das ist nebenbei bemerkt auch ein Grund, daß man nur hoffen kann, daß der Vertrag scheitert. 
 

Die neue Lex Austria 

Ich sage ihnen jetzt, was im Artikel 7 des Vertrages von Nizza steht, auch wenn dieser noch nicht rechtskräftig ist. Damit können einem EU-Mitglied das Stimmrecht, aber auch verschiedene andere Rechte entzogen werden. Und zwar geschieht das mit einer qualifizierten Mehrheit des EU-Rates. 

Der EU-Rat besteht aus den Vertretern der Regierungen. Qualifizierte Mehrheit muß man so verstehen: Es ist nicht etwa so, daß jedes Land eine Stimme hat, sondern jedes Land hat unterschiedlich viele Stimmen je nach Größe. Qualifizierte Mehrheit heißt gegenwärtig rund 72% der Stimmen von 15 Ländern. 

Was nun bedenklich ist, ist die Tatsache, daß dieses geächtete Mitglied alle Pflichten behält. Ja, es muß weiter zahlen, es muß sämtliche Verpflichtungen erfüllen. Und was das Schlimmste meiner Ansicht nach ist: es kann nicht austreten. Es darf nicht sagen: Gut, das war’s dann gewesen, auf Wiedersehen. 

Der Österreich-Beschluß vom Januar 2000 kam übrigens zustande in einem Geheimverfahren, das rechtlos war, das keinerlei Grundlage in den europäischen Verträgen hatte und das als sogenannte irreguläre Maßnahme völkerrechtswidrig war. Das muß man wirklich noch einmal wiederholen. Ich finde überhaupt, daß die Rückkehr zu geordneten Zuständen in der Welt, egal ob auf dem Balkan oder sonstwo, nur darin bestehen kann, daß sich jeder an das Völkerrecht hält. Es gibt dazu keine zivilisierte Alternative. 

Beim Österreich-Beschluß wurde das Völkerrecht ganz klar verletzt. Man muß sich fragen, warum. Dazu hat Professor Hondrich, ein Frankfurter Soziologe, eine sehr interessante Erklärung geliefert. Er meinte, ein tieferer Sinn dieser Österreich-Sanktionen könne darin liegen, daß man eine europäische Identität entfalten wollte, und außerdem, daß eine Gesellschaft, die sich in der Krise befindet, einen Sündenbock braucht. Statt Sündenbock kann man natürlich auch Feindbild sagen, und es stimmt, daß Feindbilder helfen, eine eigene Identität zu begründen. So ist ja auch die Identität der Nato entstanden, durch das Feindbild Sowjetunion – und das war kein erfundenes Feindbild. 
 

Rückgriff auf Stalin 

Das Interessante ist nun, daß die Identität der EU, die gegenwärtig gesucht wird, nicht mehr auf den traditionellen Werten Europas beruht, wie in der Zeit von Adenauer, Erhard oder de Gasperi, sondern, daß man eine ganz eigenartige Mixtur von neuen Werten angerührt hat. Dazu gehört der Antifaschismus. 

Nicht der Antitotalitarismus, dieser war ja der Konsens der 50er, 60er und 70er Jahre. Der Antitotalitarismus war immer für einen Demokraten eine selbstverständliche Einstellung, die Ablehnung aller Systeme, die gegen die Freiheit sind. Aber der Antifaschismus ist bekanntlich eine Erfindung Stalins und der Komintern aus den 30er Jahren. Das darf man nie vergessen! Er ist als Kampfbegriff erfunden worden und wurde übrigens auch gegen die SPD verwendet, gegen die sogenannten Sozialfaschisten. 

Die DDR hat immer mit dem Antifaschismus gear-beitet. Das ist eine erprobte Taktik, den Gegner ins Unrecht zu setzen und zu assoziieren, er sei Hitler-Sympathisant. Dieser Antifaschismus distanziert sich eben nicht von allen Diktaturen, vor allem nicht von den kommunistischen. Und in diese Richtung ist die EU gerückt. 

Warum sagte Mitterrand 1991 zu Gorbatschow, Frankreich werde nie etwas tun, um das Auseinanderfallen der Sowjetunion zu erleichtern? Warum dieses Interesse am Fortbestand der Sowjetunion? Oder warum die dauernden Drohungen gegen jeden, der eine Volksabstimmung abhalten will? Österreich wurde bedroht, als dort diskutiert wurde, eine Volksabstimmung abzuhalten. Die tschechische Regierung wurde aus Brüssel ermahnt, keine Volksabstimmung abzuhalten. Oder auch die Reaktion auf die Volksabstimmung in Irland. 

Überhaupt finde ich, daß es eine ganze Reihe von marxistischen Anleihen in dieser neuen EU-Ideologie gibt. Ich behaupte ja nicht, daß die Kommission aus Marxisten besteht. Das ist nicht der Fall. Aber es gibt sehr viele Anleihen aus dem Marxismus. 
 

Anleihen von Marx 

Ich gebe Ihnen ein paar Beispiele. Das erste Prinzip des Marxismus ist bekanntlich der Materialismus, auch das Leugnen von Gott usw. Der Materialismus besagt, daß nur das Materielle den Menschen und den Fortgang der Dinge auf der Welt beherrscht. Das ist im wesentlichen auch die Einstellung der EU. Die EU definiert sich primär über Wirtschaftsinteressen. Das Ganze atmet den Geist des Materialismus. 

Ein zweites Prinzip des Marxismus ist der historische Determinismus. Und zwar besagt dieser, dass die Geschichte in unabänderlichen Bahnen verlaufe, egal, was wir tun, bis hin zum Sieg des Sozialismus und des Kommunismus. Genau diese Bilder werden immer wieder in der EU verwendet. Der deutsche Altkanzler Kohl z. B. gebrauchte gerne das Bild vom Zug, der abgefahren ist. Vielleicht kann man noch aufspringen - wer nicht aufspringt, hat Pech gehabt. Nur wird nicht genau erklärt, in welchem Zielbahnhof der Zug ankommen wird. Es darf auch nie darüber diskutiert werden, ob es Alternativen zu dieser Konstruktion der EU gibt. Die gibt es natürlich. 

Ich habe noch eine Gemeinsamkeit gefunden – und zwar die Theorie vom Absterben der Nationen. Die ist rein marxistisch. Das können Sie schon bei Lenin nachlesen. Der gefährlichste Teil des Marxismus besteht ja aus dem Leninismus. Lenin ist der Mann, der die Anleitung zum Handeln gegeben hat. Lenin hat immer gesagt: der Staat verschwindet letzten Endes, die Nationen sowieso. Natürlich hat der Marxismus immer die Souveränität der Nationen bestritten. Aber genau das tut auch die Europa-Ideologie. Wo ist da der Unterschied? 
 

Europa und die Nation 

Nach der Europa-Ideologie ist die Nation von vorneherein verdächtig, sie muß Souveränität abgeben. Die propagandistische Untermalung ist folgende: Nationen führen zum Krieg. Altkanzler Kohl hat den Deutschen in einer Rede den Euro mit dem Argument schmackhaft gemacht, daß es sonst Krieg gebe. Wer gegen wen soll denn Krieg führen? Greift Portugal Spanien an oder Frankreich England? 

Der erste Weltkrieg war, wie jeder Historiker weiß, ein Resultat des damaligen imperialistischen Systems, und das ist nicht identisch mit dem System der Nationalstaaten. Aber, egal, was früher war: Welche Nation will denn heute eine andere angreifen? Das wird einfach immer wieder behauptet und partiell übrigens auch geglaubt, weil die Leute eingeschüchtert sind. Natürlich will jeder Frieden, und wenn den Leuten gesagt wird, wenn die Nationen bleiben, dann gibt es Krieg, dann bekommen sie Angst. Auch Deutschland wird Frankreich nie wieder angreifen, weil die Bundeswehr dazu gar nicht in der Lage ist und, vor allem, weil es niemand will. Es ist völlig absurd. 

Ich persönlich halte die Nation nicht für sakrosankt oder für das einzig denkbare Prinzip. Vielleicht gibt es irgendwann einen europäischen Staat. Er ist gegenwärtig allerdings schwer vorstellbar. Aber über eine Sache bin ich mir ziemlich sicher: Sie können gegenwärtig Nation und Demokratie nicht voneinander trennen in Europa. Wenn Sie die Nation entmachten, ihr die Souveränität nehmen, dezimieren Sie gleichzeitig die Demokratie. Es ist eine Tatsache, daß in Europa die Demokratie zusammen mit dem Nationalgedanken entstand. 
 

Die Charta der Grundrechte 

Eine sehr interessante Lektüre ist die neue Grund-rechtscharta der EU, die so etwas wie die Basis für eine Verfassung werden soll. In dieser Grundrechtscharta finden Sie keinen Bezug auf Gott, auf das Christentum oder das Naturrecht. Natürlich gibt es da kein Verbot der Abtreibung oder andere "altmodische" Sachen. Stattdessen hat die Charta einen ganz anderen Kern, und das ist der Artikel über das Verbot von Diskriminierungen. Das ist eine uralte Methode, die auf die 60er Jahre zurückgeht. Das ist die Methode der Kulturrevolution, die wiederum auf den italienischen Marxisten Gramsci zurückgeht. 

Schon seit den 60er Jahren gehört es zum Arsenal der Kulturrevolutionäre, angebliche oder tatsächliche Diskriminierungen aufzudecken und zu bekämpfen und mit der Bekämpfung dieser Diskriminierungen die Gesellschaft zu verändern. Deswegen kann man sich nur darüber wundern, daß all das völlig unverfälscht in dieser Grundrechtscharta (besonders in Artikel 21) wieder auftaucht, und das ist für mich der Beweis, wer da am Werk war. 
 

Prinzip Nichtdiskriminierung 

Da werden fünfzehn Diskriminierungen aufgezählt, die von der EU unterbunden werden müssen und gegen die der Ministerrat vorgehen muß. Das Interessante ist die erste und die letzte Diskriminierung, die bekämpft werden soll: Die erste ist die Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes, und die letzte, Nr. 15, ist die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung. Das ist deswegen interessant, weil es zwei ganz verschiedene Dinge sind. Das Geschlecht ist eine Sache, die jedem mitgegeben ist. Aber die sexuelle Orientierung ist etwas, das größtenteils dem freien Willen unterliegt. Es wird nicht definiert, welche sexuellen Orientierungen noch erlaubt sind und welche nicht mehr. Ein römischer Rechtsprofessor hat darüber geschrieben und gefragt, ob nicht auch Pädophilie darunter falle, die dann geschützt werden muß, die nicht diskriminiert werden darf. Übrigens ist nur vor dem Hintergrund dieses Artikels die Kampagne zur Aufwertung der Homosexualität zu verstehen. 

Die Stoßrichtung geht gegen die Familie. Vieles, was die EU macht, ist nur die Kopie dessen, was in den Mitgliedsländern gemacht wird. Es ist nicht immer die EU oder die Kommission, die sich so etwas einfallen läßt. Es ist eben auch die Mehrheit der Regierungen, die in der Sozialistischen Internationale sitzen, und - davon bin ich fest überzeugt - die die Kulturrevolution zu Ende bringen wollen, die sie in den 60er Jahren angefangen haben. 
 

Der berüchtigte Artikel 52 

Das ist sehr geschickt, weil es weitgehend über den Diskriminierungsartikel läuft, weil der Normalverbrau-cher die Methode nicht durchschaut. Auf den ersten Blick können Sie ja nicht für Diskriminierung sein. Natürlich ist zunächst jeder gegen Diskriminierungen. Man muß verstehen, daß das Kampfbegriffe sind, und daß damit etwas ausgehebelt werden soll. Ich kann Ihnen auch sagen, was ausgehebelt werden soll: Es ist die Meinungsfreiheit. Sie bekommen dann sehr schnell Ärger, weil Sie etwas Falsches sagen. Ich denke an einen Priester in Deutschland, der die Homosexualität öffentlich angeprangert hat und dann vor Gericht gezerrt wurde und Hausdurchsuchungen über sich ergehen lassen mußte. In diesem Zusammenhang muß man es sehen. 

Und dann gibt es noch einen wichtigen Artikel in der Grundrechtscharta, und dieser ist wirklich beängstigend. In Artikel 52 steht nämlich, daß die Grundrechte und Freiheiten (wie die Meinungsfreiheit) eingeschränkt werden können, wenn es "notwendig" ist und wenn dies den "Zielsetzungen" der EU tatsächlich entspricht. Professor Schachtschneider nannte übrigens die Charta einen Rückfall hinter die Aufklärung des 18. Jahrhunderts. 
 

Zusammenfassung 

Erstens habe ich Ihnen geschildert, daß die EU kein Staatenbund ist und auch kein Bundesstaat, sondern ein Gebilde neuer Art ohne historischen Präzedenzfall. Und zwar eine Bürokratie ohne klare Gewaltenteilung und ohne demokratische Legitimierung. 

Zweitens habe ich dargelegt, wie die EU sich in den 90er Jahren von einer Wirtschaftsgemeinschaft, die den Binnenmarkt verwirklicht und insofern einiges geleistet hat, in eine Art von ideologischem Gebilde verwandelt hat, wie Österreich das erste Opfer dieser Ideologie wurde und welche Anleihen beim Marxismus gemacht wurden. Denn der Marxismus war die dominierende Ideologie des 20. Jahrhunderts. Er hat das ganze Jahrhundert überschattet. 

Und drittens stellt sich jetzt noch die Frage nach der Stabilität der EU. Dazu muß man zunächst feststellen, daß sie in der Krise steckt. Diese Krise ist unter anderem gekennzeichnet durch das Problem der Osterweiterung, das nach wie vor ungelöst ist. Die Finanzierung der Osterweiterung hängt völlig in der Luft. Das konnte auch in Nizza nicht beschlossen werden. Diese Krise ist auch gekennzeichnet durch den zunehmenden Widerstand der Völker. Zuletzt in Irland, als in einer Volksabstimmung der Vertrag von Nizza abgelehnt wurde. Damit kann er nicht in Kraft treten. Der Vertrag tritt erst in Kraft, wenn er in jedem einzelnen der fünfzehn Länder ratifiziert worden ist. 
 

Was man tun kann 

Was kann man tun? Man kann nur unbeirrt für seine Prinzipien eintreten, für Demokratie, Recht und Freiheit. Denn es ist schlicht und einfach so: Positionen, die nicht mehr vertreten werden, verschwinden einfach. Und man darf nicht vergessen, daß die Geschichte immer abläuft nach dem Prinzip: Aktion / Reaktion. 

In Maastricht, Amsterdam und Nizza haben die Machthaber der EU agiert. Sie haben versucht, neue Realitäten in Europa zu schaffen. Es ist teilweise gelungen, so mit dem Euro. Aber nun reagieren die Völker immer deutlicher. Die Zustimmung zur EU ist so schwach wie nie zuvor, übrigens auch in Deutschland. Sie ist inzwischen unter 50% gerutscht. Der Euro ist so unpopulär wie eh und je. Sie haben Dänemark erlebt und Irland. Sie sehen: die Reaktion von unten her ist bereits da. 

Was erfreulich ist: Ich stelle immer mehr fest, daß sich ein europäisches Bewußtsein herausbildet, aber ein echtes europäisches Bewußtsein - und zwar unter Europäern, die gegen diese bürokratische Herrschaft aufbegehren. Das merke ich, wenn ich mit Menschen in Irland spreche oder in Dänemark oder in England - wo auch immer. Ich bin wirklich guter Hoffnung, daß die EU letzten Endes das provoziert, was sie gar nicht provozieren wollte, nämlich ein europäisches Bewußtsein im freiheitlichen Sinne. Und das entsteht durch Widerstand gegen diese Art von Machtausübung. 

Auszug aus dem "Deutschland Brief" 08/2001 
© Copyright 2001 Dr. Bruno Bandulet
 

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